Im November legt sich der Nebel wie ein stiller Schleier über die Welt
und scheint die Konturen zu verwischen, bis alles weich und sanft erscheint. Er hüllt uns ein, taucht die Landschaft in eine geheimnisvolle Ruhe und dämpft die Farben sowie sämtliche Geräusche. Wenn wir im Nebel gehen, verlieren wir die klare Sicht auf das Außen. Wir werden auf uns selbst zurückgeworfen. Da ist nichts mehr, das ablenkt – nur dieses sanfte, graue Schweigen, das uns begleitet, während wir Schritt für Schritt die stillen Schwaden durchqueren. Doch in diesen Momenten spüre ich, dass der Nebel nicht nur draußen ist. Denn ich bin mir des Nebels in meinem Leben sehr wohl bewusst. In meinem Inneren gibt es auch diesen Nebel, einen Schleier, der sich immer wieder auf mein Leben legt. Er lässt mich innehalten und stellt mich vor die Aufgabe, mich in mir selbst zu orientieren. Im Nebel meines Lebens verliere ich manchmal die Klarheit, doch gerade das zwingt mich dazu, tiefer zu blicken. Wenn die äußeren Formen verschwimmen, sind es oft die inneren Wahrheiten, die auftauchen, die ich sonst vielleicht übersehen würde. So gehe ich durch den Nebel, innen wie außen, und werde mir bewusst, dass dieser Zustand eine Gnade ist. Der Nebel in meinem Leben lässt mich zur Ruhe kommen, meine eigenen Schritte hören und mir selbst begegnen. Er lädt mich dazu ein, die Welt leiser zu sehen, den Raum zu spüren, in dem ich mich gerade befinde und die Unklarheit als Teil meines Weges zu akzeptieren. In dieser gedämpften Stille finde ich etwas Kostbares: die Möglichkeit, mir nah zu sein, mich selbst zu spüren und den Nebel nicht nur als etwas Fremdes, sondern als Teil meiner eigenen Reise zu betrachten. "Man sagt, dass ein Fluss vor Angst zittert, bevor er ins Meer fließt.
Er blickt zurück auf den Weg, den er zurückgelegt hat, auf die Berggipfel und den langen kurvenreichen Weg durch Wälder und Dörfer. Und vor sich sieht er einen Ozean, der so groß ist, dass das Eindringen in ihn wie nichts anderes erscheint, als für immer verschwinden zu müssen. Aber es gibt keinen anderen Weg. Der Fluss kann nicht zurückfließen. Niemand kann zurückgehen. Es gibt kein Zurück in der Existenz. Der Fluss muss das Risiko eingehen, in den Ozean zu fließen… Nur dann wird die Angst verschwinden, und dann weiß der Fluss, dass er nicht im Meer verschwinden wird, sondern zum Ozean wird." (Khalil Gibran) Dieses Bild, das der berühmte Dichter Khalil Gibran uns hinterlässt, ist eine kraftvolle Metapher für den Übergang von einem bekannten Zustand zu einem unbekannten. Der Fluss, der seine lange Reise durch Täler, Wälder und Dörfer angetreten hat, steht nun am Rande seiner Bestimmung: dem Ozean. Doch in diesem Moment scheint die Aussicht, in die Unermesslichkeit des Meeres einzutauchen, nichts anderes als den Verlust seiner eigenen Identität zu bedeuten. Der Fluss hat seine eigene Reise hinter sich. Alles, was er bisher erlebt hat, hat ihn geformt, ihm eine eigene Identität gegeben. Doch nun steht er vor dem Unbekannten: dem Ozean. Die Angst, die er spürt, ist die Angst vor dem Verschwinden, vor dem Verlust seiner Identität, seiner Eigenheit. Es gibt kein Zurück in der Existenz. So wie der Fluss nicht bergauf fließen kann, können auch wir nicht in die Vergangenheit zurückkehren. Wir können nicht zu dem zurückgehen, was wir einmal waren. Das Leben ist ein Fluss, der unaufhaltsam vorwärts strömt, und der einzige Weg besteht darin, sich dem Unbekannten zu stellen, auch wenn dies Angst macht. Was uns zunächst wie ein Ende erscheint, ist oft nur der Beginn eines neuen Kapitels, in dem wir wachsen und uns weiterentwickeln. Gibrans Metapher ermutigt uns dazu, den Blick auf das Unbekannte nicht als Bedrohung, sondern als Möglichkeit zu sehen. Der Ozean ist nicht das Ende des Flusses, sondern seine Vollendung. Die Angst, die uns zurückhalten will, ist nur eine Illusion. In Wahrheit sind wir dazu bestimmt, uns mit dem Unbekannten zu verbinden, daran zu wachsen und in dieser Verbindung unsere wahre Größe zu erkennen. Es ist die Natur des Lebens, dass es keine Rückkehr gibt, dass wir immer weitergehen müssen. Die Angst, die uns manchmal lähmt, verschwindet, wenn wir den Mut aufbringen, uns dem Fluss des Lebens hinzugeben. Denn nur dann erkennen wir, dass wir nicht verschwinden, sondern zu etwas Größerem werden. Es gibt kein Zurück in der Existenz. Dieses Jahr ernte ich nicht.
Nicht weil die Felder unfruchtbar waren oder es keinen Regen gab, die Sonne nicht ausreichend geschienen hat, sondern weil ich selbst nicht in der Lage war, die Früchte meiner Arbeit einzusammeln. Eine Krankheit hat mich niedergeworfen. Ich dachte an die Worte von Friedrich Nietzsche: „Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Doch das „Warum“ ist schwer zu greifen, wenn der Körper nicht mehr mit dem Geist im Einklang steht und das „Wie“ zu einer unüberwindbaren Hürde wird. Die Felder, die ich einst mit Sorgfalt bestellt habe, liegen brach. Das Gefühl, die Früchte meiner Mühen nicht einholen zu können, schmerzt. Es bleibt mir nur zu hoffen, dass in mir etwas Neues entstehen kann während der Auszeit, die mir diese Erkrankung auferlegt hat. Die verlorene Ernte ist ein Verlust, ja, doch sie erinnert mich daran, dass das Leben sich nicht allein in den sichtbaren Erfolgen misst. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass nach jedem Winter ein Frühling folgt und dass die Kräfte, die ich jetzt verliere, in einer anderen Form zu mir zurückkehren werden. Vielleicht nicht als reiche Ernte, aber als inneres Wachstum, als tieferes Verständnis für das Leben und seine unvorhersehbaren Wege. Denn das Verweilende erst weiht uns ein...
Im Mai - gerade jetzt, wenn die Natur in voller Blüte steht und die Welt in leuchtenden Farben erstrahlt, finde ich in den Worten Rainer Maria Rilkes „Denn das Verweilende erst weiht uns ein“ nach Hause. In mir. Einatmen. Ausatmen. Zur Ruhe kommen. Zentrierung. Ankommen in mir selbst. Diese Zeile aus Rilkes Poesie, die die Bedeutung des Verweilens bei den ewigen Dingen des Lebens hervorhebt, lässt mein Herz regelrecht heilen. An einem sonnigen Morgen setzte ich mich neulich in den Garten, umgeben von der üppigen Pracht des Frühlings – die Luft durchzogen vom Duft blühender Blumen und dem Gesang der Vögel. In diesem Moment des Innehaltens, wo alles um mich herum zu einem ruhigen Stillstand kam, fühlte ich, wie Rilkes Worte lebendig wurden. Es war, als ob die Natur selbst mich einlud, das ständige Voranschreiten der Zeit zu vergessen und einfach zu verweilen. Diese Erfahrung ließ mich eintauchen in das Wesen des Mai, eine Zeit, die die Schönheit und die Vergänglichkeit des Lebens widerspiegelt. Wie das Pfingstfest, das in dieser blühenden Saison gefeiert wird und an das Wirken des Heiligen Geistes erinnert, schenkte mir dieser Moment eine spirituelle Erneuerung durch die Natur. Einatmen. Ausatmen. Zur Ruhe kommen. Zentrierung. Ankommen in mir selbst. Mir wurde klar, dass das Pfingstfest und der prächtige Mai mehr gemeinsam haben, als es scheint. Beide Zeiten fordern uns auf, das Göttliche in den alltäglichen Wundern zu erkennen und uns von der Schönheit des Lebens, das sich ständig entfaltet und erneuert, verzaubern zu lassen. Mein Erlebnis im Garten war eine Erinnerung daran, wie wichtig es ist, im Leben innezuhalten und die Schönheit um uns herum zu schätzen – denn es ist das Verweilende, das uns wahrhaft einweiht. Einatmen. Ausatmen. Zur Ruhe kommen. Die Liebe im Herzen spüren. Den heiligen Moment. Den heiligen Moment zulassen, die heiligen Momente zulassen, gerade und besonders auch zu Pfingsten... Vor einigen Wochen wurde mir ein Gebet zugetragen, das ich hier teilen möchte.
Ich hörte es im richtigen Moment. Es berührte mich immens und schenkte mir Versöhnung. Versöhnung und inneren Frieden. Das Ergebenheitsgebet von Rudolf Steiner fließt in sanften Versen. Wie ein Spiegelbild von tiefen Seelenlandschaften. Wie ein stilles Flüstern des Kosmos, ruft es zu einer Hingabe an das Geistige auf, zu einer Vereinigung mit dem großen Ganzen des Universums. Steiner webt Worte der Demut und des Vertrauens - ein harmonisches Band zwischen Mensch und Weltall, in dem jeder Atemzug ein Echo der Ewigkeit ist. Dieses Gebet ist wie ein stiller See, der die Sterne der höheren Erkenntnis in seiner ruhigen Oberfläche reflektiert. Ein Leitstern für die Suchenden auf dem Pfad der inneren Entwicklung. Möge dieses Gebet von Rudolf Steiner Frieden bringen auf unserer Welt. Möge es Frieden bringen in unseren Welten ... Ergebenheitsgebet Was auch kommt, was mir auch die nächste Stunde, der nächste Tag bringen mag: Ich kann es zunächst, wenn es mir auch ganz unbekannt ist, durch keine Furcht ändern. Ich erwarte es mit vollkommenster innerer Seelenruhe, mit vollkommenster Meeresstille des Gemüts. Durch Angst und Furcht wird unsere Entwicklung gehemmt - wir weisen durch die Wellen der Furcht und Angst zurück, was in unsere Seele aus der Zukunft hinein will! Die Hingabe an das, was man göttliche Weisheit in den Ereignissen nennt, die Gewissheit, dass das, was da kommen wird, sein muss und dass es auch nach irgendeiner Richtung seine guten Wirkungen haben müsste, das Hervorrufen dieser Stimmung in Worten, in Empfindungen, in Ideen, das ist die Stimmung des Ergebenheitsgebetes. Es gehört zu dem, was wir in dieser Zeit lernen müssen: Aus reinem Vertrauen leben, ohne Daseinssicherung, aus dem Vertrauen auf die immer gegenwärtige Hilfe der geistigen Welt. Wahrhaftig, anders geht es heute nicht, wenn der Mut nicht sinken soll. Rudolf Steiner Die Langeweile wird oft als ein unerwünschter Gast in unserem hektischen Leben betrachtet.
Jedoch birgt sie in Wahrheit einen verborgenen Schatz – den Funken der Kreativität. In den stillen Momenten des Nichtstuns erwacht in uns Menschen oft eine unerwartete Quelle der Inspiration. Mit dem Beginn eines neuen Jahres, einer Zeit des Neubeginns und der Hoffnung, bietet Muße eine einzigartige Gelegenheit, sich selbst neu zu entdecken. Es ist, als ob die leere Leinwand des kommenden Jahres uns einlädt, mit den Farben unserer Vorstellungskraft zu malen. Wir können die Samen für neue Projekte säen. Für unerforschte Träume. Und für wunderbare Ideen. Im poetischen Tanz der Gedanken. Im Freiraum der Langeweile. In der Ruhe liegt eine Kraft, die oft übersehen wird. Wenn wir uns erlauben, in diesen stillen Augenblicken zu verweilen, entdecken wir vielleicht, dass Langeweile nicht ein Zeichen von Unproduktivität ist. Wir erfahren wahrscheinlich, dass Langeweile ein Zustand voller Potenzial ist. Es ist eine Einladung, tief in das Reich der Phantasie einzutauchen und die unendlichen Möglichkeiten zu erkunden, die das neue Jahr vor uns ausbreitet. So möge dieses neue Jahr ein Zeugnis der unerwarteten Schönheit sein, die in den Momenten der Ruhe verborgen liegt. "Und jetzt lassen Sie uns glauben an ein langes Jahr, das vor uns liegt, neu, unberührt, voll nie gewesener Dinge." Rainer Maria Rilke Ich wollte längst über etwas ganz anderes schreiben.
Aber dann kamen die Abschiede. Menschen gingen. Teilweise in jenseitige Welten. Teilweise entschwanden sie zum Glück einfach auf ihren eigenen mir fernen Pfaden. Etwas legte sich wie ein schwerer Schleier auf meine Seele. Die Blätter fielen im Frühling. Sie bildeten eine trotzige tragische Decke aus weißem Puder. Sie versteckten ein wenig das Maigrün. Ich ging wandern und stellte fest, die letzten Überbleibsel meiner Jungend haben sich längst verabschiedet. Ich fühlte das unvermeidbare Grau, während die anderen Menschen um mich herum schneller unterwegs waren. Schneller als ich, die sich an unsichtbaren Farnen und Spinnweben festklammerte, um nicht zu fallen. Wenigstens eines vermeiden. Wenigstens nicht fallen. Mein schönstes Erlebnis in den Schweizer Bergen war, in einer Gondel von der Klarheit in den Nebel zu schweben. Abwärts. Das mag seltsam klingen. Aber es war eine mystische Erfahrung und stellt eine Metapher dar für meine gesegnete Unwissenheit über die Ereignisse und Dinge, die mir bevorstehen. Wisst ihr, ich will gar nicht wissen. Ich möchte keine Kontrolle. Ich möchte bei all den Abschieden und Verlusten, die ich erfahre, nur eins - einfach nur leben. Da kommt das Sternzeichen Zwilling in mir durch. Ich bin schwer, aber auch luftig. Breite meine Flügel aus in eine ungewisse Zukunft voller Schranken und endlos mäandernden Wegen, die in die Freiheit führen. Was auch immer das bedeuten mag. Das Leben ist ein Tanz. Wer weiß, was uns sonst bliebe... Eine gute Bekannte, wie man so sagt, wenn man ab und zu ein paar nette Worte wechselt, durchlebt momentan eine schwere Krise.
Wie es dazu gekommen ist, das ist unerheblich. Erheblich dagegen wiegt der Schaden, den die besagte Person dabei nimmt. Inzwischen ist sie ein Schatten ihrer selbst. Neulich fragte ich sie nach ihren inneren Ressourcen. Was das denn sei, wollte meine Bekannte wissen. Ich kann es nicht exakt definieren. Nur so etwa: Es geht darum, in sich selbst etwas zu finden, auf das man zurückgreifen, an dem man sich festhalten kann, wenn das Leben einen durchschüttelt und die Seele zerzaust. Ein Großteil meiner inneren Ressourcen besteht aus abgespeicherten Glücksmomenten. Aus Augenblicken, in denen es in mir "Klick" gemacht hat und ich ein Foto oder einen Kurzfilm in meinem Gedächtnis abgelegt habe. Von einer Szene besitze ich eine enorme Sammlung: Immer, wenn ich spätabends von der Bandprobe heimkam, machte mein Mann das Garagentor auf und unsere Hündin Amy stand schwanzwedelnd vor der Haustür. Sobald ich das Auto geparkt hatte, kam sie zu mir gelaufen. Wenn ich dann die Wagentür öffnete, war da ganz viel Hund und ganz viel Glück. Leider gibt es unsere Hündin nicht mehr. Und inzwischen geht mein Mann eher schlafen. Aber - es war soooo schön! Es waren Glücksmomente, perfekte Momente. Ein anderes Highlight ist bzw. war der Garten einer spirituellen Lehrerin. Bei ihr besuchte ich mehrere Seminare. Der Garten verkörperte für mich ein Märchenland. Ein Paradies für Naturwesen jeder Art. Ein Bächlein gurgelte vor sich hin umsäumt von sibirischen Birken. Unfassbar herrlich. Alles. Jetzt gehört dieses bezaubernde Fleckchen Erde fremden Menschen. Und ich werde es nur noch in meiner Phantasie betreten können. Aber immerhin. Irgendwie ist der wunderschöne Garten für mich immer noch da und verströmt seinen Zauber in die Welt. Zu guter Letzt: Ein Sommerabend auf der Terrasse eines guten Freundes. Es wird gelacht. Wir blicken über die Dächer der naheliegenden Häuser. Die Terrassentür ist leicht geöffnet. Im Wohnzimmer sitzt der Gastgeber am Flügel und spielt Jazz. "Klick!" Die Amseln singen. Es weht ein laues Lüftchen. Haach... Ich könnte endlos weitere Glücksperlen in meiner Erzählung auffädeln. So viel und so unfassbares Glück hatte ich in meinem Leben schon. Und du? Wie sieht dein Glücksarchiv aus? Jedenfalls werde ich meine Bekannte beim nächsten Treffen nach genau solchen Momenten fragen. Manchmal können schöne Erinnerungen unseren Fokus verändern. Sie können den Himmel über uns etwas aufhellen. In einem türkischen Dorf, aber es hätte fast überall auf der Erde passieren können,
ist einem Mann folgendes widerfahren: Er verabschiedete sich von seiner Frau und ging in die örtliche Kneipe. Dort feierte er mit Bekannten und trank und trank und trank. Im Laufe des Abends, der Nacht verloren ihn seine Leute aus den Augen. Sie fragten sich, wo er wohl geblieben sei. Auch seine Frau zu Hause begann sich Sorgen zu machen. So startete das Dorf mitten in der Nacht eine große Suchaktion. Mit Taschenlampen liefen sie kreuz und quer durch die Landschaft. Unser Protagonist erschien irgendwann, nach vielen Stunden, wieder auf der Bildfläche. Er war immer noch völlig durcheinander. Was machten die Menschen? Sie schienen ziemlich aufgeregt zu sein. Es war etwas Wichtiges, vermutlich... Ach, sie suchen jemanden. Jemand wird vermisst. Also half er mit. Das ging eine ganze Weile so. Aber, Moment mal, wen riefen denn die Menschen? Nun, das war ja er?? Na, so etwas aber auch! Kurios. Dieses Vorkommnis schaffte es in die Nachrichten. Da hat jemand im wahrsten Sinne des Wortes sich selbst gesucht. Und es anfangs gar nicht gemerkt, wen er da wirklich sucht. "Ich suche nicht - ich finde", sagte schon Pablo Picasso. Wenn ich mich im Suchen verliere, bleibt das Haus kalt und leer. Unbewohnt und verlassen. Dann war jegliche Reise scheinbar sinnlos. Und doch fange ich wieder von vorne an. Immer wieder. Oder ich halte mich an Picassos Worte. Und denke an die Geschichte von dem Mann aus dem türkischen Dorf. Aber unbewohnte, verlassene Häuser ziehen mich magisch an. Ich weiß auch nicht... Schwierige Sache mit dem Suchen. Nicht wahr? Die Zeit zwischen Geburt und Tod kann man sich vorstellen wie einen Tag im Leben eines Kindes.
Ein Tag. Sehr übersichtlich. Sehr endlich. Und irgendwie doch tröstlich. Das hoffe ich. Wir kommen in die Welt. Das Kind wird morgens wach. Es steht auf, macht dies und das. Das Kind schaut in den Spiegel. Wie sehe ich aus? Wer bin ich? Bevor es nach draußen geht, gibt es Frühstück. Eine Jacke, feste Schuhe oder Sandalen - je nach Jahreszeit. Ein Rucksack oder eine Schultasche. Und das Abenteuer beginnt. Es kann passieren, dass das Kind schon auf dem Schulweg in einen schweren Unfall verwickelt wird. Dann war das Leben arg kurz. Aber nehmen wir an, das passiert nicht. Das Kind kommt pünktlich in der Schule an. Es lernt viel. Zwischendurch macht es auf dem Schulhof Faxen. Das Kind hat Freunde. Aber auch Mitschüler, denen es lieber aus dem Weg geht. Ein Junge stellt ihm ein Bein und es fällt hin. Die Wunde wird noch den ganzen Tag weh tun. Aber die Lehrerin sagt: Das geht vorbei. So geht das Leben immer weiter. Dinge gehen vorbei. Dinge schmerzen. Dinge lassen uns vor Freude in die Luft springen. Nach der Schule spaziert die Kleine mit ihrer besten Freundin durch den nahe gelegenen Wald. Die Freundin hat einen Hund. Bellendes Glück fegt durch's Gebüsch. Ein aufgescheuchtes Reh verschwindet am Horizont. Unverhofft zieht ein Gewitter auf. Genau, du hast Recht, wir reden hier in diesem Fall von einem Mädchen Frierend und bis auf die Haut durchnässt stehen die beiden Freundinnen mit dem Hund vor der Haustür des Försters. Am Kamin wärmen sie sich auf und trinken leckeren Kakao. Der Hund schläft selig nach dem ganzen Herumgetobe und Gerenne. Dem Kind geht es gut, aber die Wunde vom Vormittag pocht. Hoffentlich entzündet sie sich nicht. Der Förster reinigt und desinfiziert die Verletzung. Ja, wir bekommen beides zu spüren, Ungemach und Hilfe. Sturm und warme Stuben. Freunde und Feinde. Weggefährten und sichere Häfen. Wenn wir Glück haben. Dann meint der Förster, es sei Zeit für die Kinder nach Hause zu gehen. Sie machen sich auf den Weg. Unterwegs treffen sie noch einige Mitschüler. Jemand hat Geld dabei. Sie kaufen sich etwas zu naschen und für den Hund auch eine Kleinigkeit. Dann fällt unserer Protagonistin ein, dass sie noch Hausaufgaben machen muss und verabschiedet sich von den anderen. Ach, was war das für ein schöner Tag. Zu Hause wartet ihre Mutter schon auf sie. Sie erzählt, was sie alles erlebt hat und die Mutter freut sich für ihre Tochter. Ja, was für ein schöner Tag! Das Pflaster auf der Stirn stört inzwischen gar nicht mehr. Das Mädchen macht seine Hausaufgaben. Nicht alle. Ein wenig will sie morgen noch vor der Schule fix abschreiben. Denn sie ist so müde von allem, was sie erlebt hat heute. Nach dem Abendbrot nimmt sie ein warmes Bad. Sie geht in ihr Zimmer, legt sich ins Bett. Am Fußende steht ein Engel. Es sei nun an der Zeit. Sie streicht sich die grauen Strähnen aus der Stirn, legt die Lesebrille auf den Nachttisch. Im Idealfall schläft sie sanft ein. So genau wissen wir das nicht. Es war ein schönes Leben, denkt sie noch. Aber nun ist es vorbei. Und der Engel nimmt ihre Hand. Schlaf gut bis morgen, hört sie ihn flüstern. Ja, ich schlafe jetzt. Bis morgen... Kennt ihr diese Tage, die sich ziehen wie Kaugummi?
Man ist die ganze Zeit demotiviert und freut sich auf den Abend... Weil dann Dusche und Bett warten. Weil man so müde ist irgendwie. Weil es dunkel wird, früh dunkel wird. Die Natur größtenteils im Winterschlaf versinkt. Weil Schnee liegt. Dir ein Märchenreich vorgaukelt, welches es hier leider nicht gibt. Und dann, ich mache die Lichter aus. Es ist spät. Auch auf der Terrasse liegt Schnee. Seit einigen Tagen. Unberührter Schnee. Und da bemerke ich: Es war jemand hier. Ich sehe Spuren im Schnee, die zu einer Figur auf unserer Terrasse führen. Sie enden dort. Ich bin nicht sehr gut im Spuren lesen. Ich tappe im Dunklen. Aber. Es war jemand hier. Ein Wesen. Unsichtbar. Nur Spuren hat es hinterlassen. Spuren, die mein Herz berühren. Genau die, die meine Seele brauchte. Es war jemand hier. Das Wort "Gehen" impliziert verschiedene Aspekte.
Man kann fortgehen. Eine Krankheit kann vergehen. Die Zeit. Oder eine Pflanze. Man kann sich bewegen von A nach B. Wandern. Wandeln. Pilgern. Hetzen. Eilen. Spazieren. Alles, was mit Bewegung zu tun hat, war mir achtzehn Monate erschwert. Teilweise unmöglich. Teilweise teils möglich. Im Zusammenhang mit einem "Überfall", einem "Zusammenprall" oder einer "Attacke" ist mir im Sommer vor einem Jahr etwas in den Körper und in die Seele gefahren, das mich gelähmt hat. Mich hat das körperlich extrem eingeschränkt. Erst konnte ich nur mit Krücken gehen. Später habe ich mir Meter für Meter meine Mobilität zurückerobert. Die Wege wurden länger, aber der Schmerz blieb hartnäckig. Das Ganze zog sich wahnsinnig in die Länge. Trotz Akupunktur und Physiotherapie. Ich nahm zunehmend eine fatalistische Haltung ein. Und gab mir ein Jahr Zeit. Dann sollte das blöde Drama vorbei sein. Das NichtGehenKönnenDrama. Aber die Zeit, die ich mir gegeben hatte, reichte nicht. Und ich begann andere Menschen beim Gehen zu beobachten. Ob sie leichtfüßig unterwegs waren. Oder nicht. Ob es ihnen bewusst war oder gleichgültig oder selbstverständlich. Dass sie einfach gehen konnten. Zu Fuß. Auf den Beinen sein. Unterwegs. Ich entwickelte einen besonderen Blick auf das Gehen. Ich trauerte meinem Gang von früher regelrecht hinterher. Wie einer verlorenen Jugend. Oder einer verlustig gegangenen Liebe. Einem geliebten Wesen, welches ich zu Grabe getragen habe. Zornig dachte ich an den "Überfall", den "Zusammenprall" oder die "Attacke". Ein weiser Mensch sagte mir, dass das keine gute Strategie sei. Diesen Satz konnte ich so stehen lassen. Meine Vergebungsfähigkeit ließ noch zu wünschen übrig. Aber der Satz war nun da. Dies war vermutlich Schritt eins. Schritt zwei kam zu mir als eine Eingebung, mich tapen zu lassen. Was folgte war Schritt drei: Mein Feld verlassen. Ich fuhr in den Urlaub. Dort stand Gehen an der Tagesordnung. Ich war nicht alleine unterwegs. Die anderen nahmen Rücksicht auf mich. Ich wiederum gab mein Bestes, was das Gehen anbelangte. Der Urlaub war so schön und inspirierend, dass es mir gelang, über meine Schmerzgrenze zu gehen. Immer wieder. Ja, und so unsichtbar und zart, fast schon heimlich geschah gefühlt plötzlich Heilung. Mein linkes Bein begann sich anzufühlen wieder wie mein eigenes. Ich konnte den Fuß irgendwann abrollen. Nach einhundert Metern spürte ich keinen stechenden Schmerz. Stattdessen eher eine leise Erinnerung. Für mich ist das ein großes Wunder. Ich hatte schon fast aufgegeben. Warum ich darüber schreibe? Weil ich Mut machen möchte. Gewisse Strukturen in unseren Körpern brauchen länger um zu heilen. Es hängt davon ab, ob es sich zum Beispiel um Knochenbrüche, Sehnenscheidenentzündungen, Muskelverkürzungen oder was weiß ich handelt. Es hängt auch davon ab, in welchem Zusammenhang eine Verletzung zustande gekommen ist. Und es hängt davon ab, welcher Mensch, welches Wesen betroffen ist. "Fragen Sie nicht, welche Krankheit die Person hat, fragen Sie lieber, welche Person die Krankheit hat." (Sir William Osler) Ausschlaggebend ist, wie unsere Seele das Ganze verarbeitet. Unsere Gedanken sind oft sehr schnell. Aber der Körper ist langsam. Die Seele kennt, glaube ich, keine Zeit. Der Körper ist langsam. Das habe ich begriffen. Die Seele kennt keine Zeit. Seiner Intuition zu folgen, ist eine Form dem Leben zu vertrauen. Was es mit dem Glück so auf sich hat, durfte ich diesen Sommer schmerzvoll erfahren.
Ein Mosaikstein mehr Verstehen. Ein Mosaikstein mehr Demut. Ein Mosaikstein mehr Loslassen. Dieser Sommer erschien mir endlos. Es war ein Sommer ohne Amy, ohne unsere liebe Hündin Amy. Sie war sehr krank. Ich glaube, bereits im Frühjahr bemerkten wir, dass etwas nicht stimmte. Es gab die Option, sie operieren zu lassen. Das Ganze hatten wir schon einmal durch. Vor zwei Jahren etwa. Damals ist die Operation geglückt. Dieses Mal ist die Operation nicht geglückt. Es ist einfach alles schief gelaufen. Es war alles geschehen, bevor wir dachten, es gäbe noch eine Lösung. Wir haben es schlichtweg oft nicht in der Hand, wohin der Weg sich offenbaren möchte. Wir sitzen in unserem Zug und können es nicht verhindern, dass jemand vor uns aussteigt. Wie eine Seifenblase zerplatzte der Traum, Amy noch eine Weile bei uns zu haben. Anfang Juli. Es ging schnell, schmerzhaft und unwiderruflich. Ich musste plötzlich entscheiden. Aber eigentlich war alles schon entschieden. Ich konnte nur noch loslassen. Amys Sterbeprozess war nicht wie in einem esoterischen Buch. Es kamen keine Engel. Jedenfalls nicht zu mir. Weil ich jetzt nicht wichtig war. Zu Amy kamen die Engel schon. Ich habe es ihr angesehen. Das ist der letzte Trost, der mir bleibt. Amys Seele wollte weiterwandern. Vielleicht. Die OP ist nicht geglückt. Die Uhren standen still diesen Sommer. Ich bin so froh, dass der Sommer vorbei ist. Im Herbst finde ich mich wieder. Ich fühle mich aufgehoben, wenn ich beobachte, wie die Blätter fallen. Ich fühle mich verstanden, wenn die Vögel ziehen. Ich fühle mich geborgen zu Hause, wenn es draußen eher dunkel wird. Dankbar blicke ich auf die Zeit mit Amy zurück. Sie war ein wundervoller Hund und ein unfassbar liebevolles Wesen. Sie war eine Jägerin. Eine wilde Hummel. Sie war sanft. Und sie war eine Heilerin. Danke, dass du bei uns warst, liebe Amy! Danke für sieben geglückte Jahre! Neulich kam zu mir eine Geschichte.
Sie hat mich gefunden. Mehrmals. Und jetzt findet sie dich, wenn du magst. Ich erzähle sie mit meinen Worten. Wenn du suchst, wirst du sie wiederfinden. Jeder erzählt sie anders: Die Geschichte von dem Dorf mit den goldenen Fenstern. Vor vielen Jahren wuchs ein Junge in einem kleinen Dorf, welches im fernen Himalaja Gebirge beheimatet war, heran. Jeden Morgen machte sich dieser kleine Junge auf den Weg zur Schule. Und jeden Morgen fiel sein Blick auf ein Dorf, das sich weit entfernt, gegenüber in den Bergen hinter einem tiefen Tal befand. Die Menschen in diesem Dorf mussten von großem Wohlstand gesegnet sein, denn die Häuser dort hatten goldene Fenster. Sie leuchteten und strahlten verheißungsvoll. Sie versprachen gleißendes Glück. "Wenn ich groß bin", sagte sich der Junge, "werde ich zu diesem Dorf gehen". "Wenn ich groß bin", sagte sich der Junge, "möchte ich genau in diesem Dorf leben und auch so ein Haus mit goldenen Fenstern besitzen". Während seiner gesamten Kindheit trug ihn seine Sehnsucht auf sanften Schultern und schürte die Hoffnung auf ein besseres Leben. Es kam der Zeitpunkt. Endlich war es soweit. Er war groß und stark und machte sich auf den Weg. Lange musste er wandern, viele Hindernisse überwinden. Doch irgendwann erreichte er dieses wundervolle Dorf. Was musste er sehen? Es war ein ganz gewöhnliches Dorf. Die Häuser hatten ganz gewöhnliche Fenster. Wohin war all der Zauber verschwunden? Verwundert blickte er sich um. Es war spät geworden und die Sonne neigte sich schon tief am Horizont. Seine Augen irrten in die Ferne umher. Zu dem Dorf gegenüber, aus dem er gekommen war. Ja, und die Häuser dort hatten goldene Fenster. Sie leuchteten und strahlten verheißungsvoll. Und versprachen gleißendes Glück... |
Inés Witt
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