Die Zeit rennt. Wir rennen. Zahlreiche Studien haben ergeben, dass sich unser Zeitempfinden mit den Jahren ändert. Zunehmend geht uns das Leben zu schnell.
Dazu kommen noch das Internet mit all seinen Vor- und Nachteilen und viele andere herausfordernde Errungenschaften des 21. Jahrhunderts. Immer mehr Hektik, immer mehr „Schneller! Weiter! Höher!“. Kann man nix machen, ist eben der Zeitgeist... Der Zeit-Geist? Muss ich jetzt Angst bekommen? Klaut der Zeit-Geist mir etwa noch meine Zeit oder hat etwas anderes, was mir nicht gefällt, mit mir vor? „Wenn du in Eile bist, mache einen Umweg.“, lautet eine buddhistische Weisheit. Es gibt bestimmt viele Möglichkeiten diese klugen Worte zu beherzigen. Mein „special effect“ ist die Zeitlupe. Ich bleibe manchmal einfach stehen und mache bewusst Dinge laaangsaaam. Solche Sachen wie den Wasserhahn aufdrehen und den Luxus genießen, der mir aus der Wand entgegenfließt. Das Handtuch fühlen, spüren. Im Zeitlupentempo durch die Räume gehen, Schritt für Schritt, Türen bedächtig öffnen und die Maserung des Holzes anschauen, die Füße auf den Fliesen oder Teppich. Ein bisschen schräg das Ganze? Ja, gewiss, aber es kostet mich keine 5 Minuten und bringt mich garantiert in Sekundenschnelle in das Hier und Jetzt. Einfach den Lebenslauf für eine kleine Zeitspanne auf Zeitlupe stellen. Geht beim Videoschnitt auch. Und oft wirkt die eine oder andere Szene in Zeitlupe sogar noch viel interessanter. Dieser „special effect“ lässt sich nahezu überall einsetzen. Sehr gut in Wald und Flur. Ein ziemlich ungeeigneter Ort dagegen ist der Supermarkt um die Ecke. Da denken die Leute, du hast ein Problem und wollen dir „helfen“. Dabei wolltest du doch nur kurz aus dem ganzen Wahnsinn um dich herum aussteigen... Deshalb- lieber laaangsaaam die Haus-oder Wohnungstür aufschließen, ab und zu Handy Handy, PC PC sein und sich nicht erwischen lassen bei dem oben beschriebenen, ja - ich gebe es zu, etwas seltsamen Gebaren... Heute schreibe ich einen merkwürdigen Text, der jetzt – ja, richtig – genau in diesem Augenblick entsteht.
Wenn du spazieren gehst oder am Nachmittag von der Arbeit kommst, wirst du sie sehen und hören: Krähen. Wir jedenfalls haben hier eine Menge Krähen. Sie erinnern mich, wenn sie auf den leeren Äckern und Feldern herumstolzieren oder unseren Garten bevölkern, an altehrwürdige Professoren. Nur eine liebe Freundin von mir sieht das anders. „Ihr großen schwarzen Vögel, warum könnt ihr nicht weiß sein?“, rief sie verzweifelt, als es ihr gerade nicht besonders gut ging... Ich liebe die Krähen seit meiner Kindheit. Sie begleiteten mich im Herbst und im Winter auf dem Weg zur Schule und später auf endlosen Spaziergängen. Im Gegensatz zu meiner Freundin bin ich ein absoluter Krähenfan. Neulich träumte ich, ich hatte graue Haare, nur eine Strähne war bunt wie ein Regenbogen. Meist lief ich rum wie eine graue Maus. Manchmal jedoch, aus einer Laune heraus und meiner Freundin zuzwinkernd, zog ich mir einen Scheitel, so dass der Regenbogen auf meinem Kopf erstrahlte. Wir liefen lachend in wehenden Mänteln am Strand entlang und beobachteten die Möwen, diese weiß-grauen kreischenden Wesen, die umtriebig und gierig nach Fressen und Freiheit sind. Ja, ein seltsamer Text, nicht wahr? Passt aber zum November und meinen geliebten Krähen, die sich übrigens, nebenbei gesagt, oft in Gesellschaft von Dohlen befinden. Schau’ mal genau hin. Es sind wirklich alles Professoren. Ein interessantes Phänomen, welches meiner Wahrnehmung recht zu geben scheint, gibt es im Hinduismus. In einigen Tempeln werden weiße Ratten als reinkarnierte Geschichtenerzähler oder gar Heilige verehrt, hat mir ein Bekannter berichtet. Faszinierend, finde ich. Sollte man vielleicht nicht alles für bare Münze nehmen, doch ich liebe die Inspiration durch altehrwürdige Professoren und Geschichtenerzähler. Und eventuell lasse ich mir tatsächlich eines Tages einen Regenbogen ins Haar färben. Es gibt da so einen Salon in London... Oder beides? Über den Imago-Prozess habe ich einiges gelesen. Du sicher auch. Falls nicht, ich glaube, keine Geschichte beschreibt ihn besser als diese, die ich irgendwann im Internet von einem unbekannten Autor gefunden habe. Ich gebe sie hier mal mit meinen eigenen Worten wieder:
Ein Schmetterling versuchte durch die schmale Öffnung seines Kokons zu schlüpfen. Das beobachtete ein Mann und bekam Mitleid, weil sich der Schmetterling so abmühte. Der Mann nahm eine kleine Schere, öffnete vorsichtig den Kokon und siehe da, der Schmetterling konnte sich leicht befreien. Aber dann bekam der Mann einen riesigen Schreck: Der Schmetterling konnte nicht richtig fliegen, er stürzte ab und auch auf seinen Beinen konnte er nicht wirklich stehen. Der Mann berichtete einem Freund von dieser Tragödie und erfuhr, dass er dem Schmetterling nicht hätte helfen dürfen. Er hat dem Schmetterling viel mehr geschadet als „geholfen“. Der Mann hat den Schmetterling zwar kurzfristig unterstützt, aber langfristig seine Entfaltung verhindert, weil der Schmetterling erst eigenständig durch diesen Imago-Prozess hätte gehen müssen, damit sich seine Flügel ent-wickeln. Ein Schmetterling braucht also Widerstand um in seine Entfaltung zu kommen. Es braucht Dinge, an denen wir wachsen können. Auch als Erwachsener mache ich immer wieder die Erfahrung der „Wachstumsschmerzen“. Es läuft mitunter hier nicht oder tut dort weh. Ich bin überzeugt, dass es meinem Image nicht schadet, wenn ich zugebe, dass ich vorhabe bis an mein Lebensende zu wachsen. Für manche Menschen mag das befremdlich wirken, schließlich sollte man doch sein Image hoch halten. Ja, sollte man? Um auf die eingangs gestellte Frage „Image oder Imago?“ zurück zu kommen: Ich sage: „Eindeutig beides!“ Das eine schließt das andere nicht aus. Eher im Gegenteil, wenn ich mit meinem kleinen Ego nicht so bedürftig und abhängig von der Meinung anderer bin, kann ich offen äußern, dass ich mich ab und zu verpuppen und hinterher neu erfinden möchte oder muss. Ich werde dadurch ja keine andere Person, sondern bestenfalls eine reifere und liebevollere Ausgabe meiner Selbst. Und das sollte doch dem Image nicht schaden, oder? Denn mit Imago ist „Du Baum, wachse! Da geht noch was!“ gemeint und nicht: „Bäumchen, wechsle dich!“. Wenn du eine Garantie haben möchtest, dass der Fluss der Kreativität ins Stocken geraten soll, nimm’ dir vor, es perfekt zu machen. Sage dir, dass du es unbedingt richtig und überzeugend machen musst, perfekt halt.
Solche Gedanken lassen den Atem flach werden, im Hals sitzt ein Kloß und die gefühlte Dichte im Bauchraum nimmt zu. Im Spiel hingegen gibt es keine Erwartungen. Im Spiel darf alles leicht gehen, ohne Krampf und ohne Kampf. Wie Schmetterlinge und Libellen fliegen dir Ideen zu. Der Stift oder Pinsel gleitet beinahe von alleine über das Zeichenblatt und die Skizzen vermitteln, dass etwas auch „nebenbei“ entstehen kann. So wie ich „nebenbei“ auf einem Spaziergang im Wald einen kleinen Pavillon entdeckte. Ich schaute auf einen Teich, der von alten abgestorbenen Bäumen und hohem welken Gras umsäumt war. Eine Wiese breitete sich endlos aus und in der Ferne musste sich noch ein weiteres Gewässer befinden. Denn ich bemerkte dort ein Glitzern, wenn die Sonne schien und ich hörte Enten schnattern. Letzte Libellen und Schmetterlinge irrten umher an diesem ungewöhnlich warmen Herbsttag. Was hat das mit Kreativität zu tun, fragst du... Lass’ uns diese Libellen und Schmetterlinge einfangen, nicht, um sie einzusperren, nein, um ihnen Raum zu geben und uns inspirieren zu lassen von ihrem Tanz. Lass’ uns ferne Gewässer erkunden und nachschauen, ob sich neben den Enten auch Schwäne dort niedergelassen haben. Möglicherweise bekommst du Lust, einige Dinge unvoreingenommener und innerlich ruhiger anzugehen. Vielleicht bekommst du Lust, das Verspielte und Zufällige in deinen Alltag einzuladen. Bestimmt wird etwas dabei herauskommen. Etwas, von dem du bisher gar nicht wusstest, dass es existiert. Ich hatte ja ebenso vor meinem Spaziergang keine Ahnung von dem Pavillon und wie der See hinter der Wiese aussieht, weiß ich auch nicht. Noch nicht. Aber ich freue mich auf weitere Spaziergänge, auf die Schnatterenten und die Schwäne, die mir das Leben so zuspielt. Die Bäume waren noch voller Laub, üppig und grün. Ich starrte aus dem Zugfenster, der September hatte gerade begonnen.
Wenn ich das nächste Mal hierher komme, dachte ich, werden nur noch vereinzelt gelbe Blätter an dunklen Ästen flattern wie Wimpel nach einer lange zurückliegenden Party. Das alte Jahr wird dabei sein, seine Sachen zu packen, im Geiste beinahe schon verschwunden, fast hektisch im Gewahrsam der bevorstehenden langen Reise. Der Übergang war immer schwierig. Wie auf einem Bahnhof, wenn die Umsteigezeit durch eine Verspätung auf ein Minimum zusammenschrumpft, wird der Blick der Menschen gehetzt und die Schritte schneller werden. Entgegen allen Traditionen wird sich Weihnachten anfühlen wie die Eingangstür zu einer Sporthalle und Silvester erinnert an einen Sprung über den Bock. Alle werden in das neue Jahr springen, landen auf blankgeputztem Parkett, verlassenen Straßen oder in einer verschneiten Hütte auf einem Berg. Genau so ist es, ging mir durch den Kopf, und kurz konnte ich ein Rotkehlchen sehen, das auf einem leeren Bahnsteig nach Futter suchte. Diese Zeilen sind genau 2 Monate alt. Und jetzt bin ich wieder dort, wo die Bäume voller Laub waren, üppig und grün. Übermorgen werde ich im Zug sitzen und Ausschau halten nach Rotkehlchen und anderen Tieren. Die Landschaft wird an mir vorbeirauschen, die Linien der Freileitungen für die Züge werden sich vereinen und wieder auseinanderdriften. Es tut gut, sich Notizen zu machen. Es tut gut, diese Notizen zu lesen, zu verwenden. Es lässt mich erkennen, dass das Leben nicht ver-fliegt, dass es gegangen werden kann, dass es gesehen werden kann, sehr bewusst, wie eine Kerze, von der man weiß, dass sie nicht unendlich lange brennen wird. |
Inés Witt
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