Vorweg: Verzeiht mir bitte die Ironie. Ich liebe es zuweilen, die Sachverhalte zu überzeichnen.
Es ist ernst gemeint, was ich schreibe, aber nicht hundertprozentig ernst. Humor ist eine schöne Ressource. Widersprüche zu akzeptieren ebenso. Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, dann gibt es dort viel Nichts. Entweder ich war noch nicht soweit, es war unwichtig oder richtig blöd. Daher die Lücken. Wenn ich an meine Jugend denke, sehe ich vor allen Dingen Probleme. Ganz viele Probleme. Wahrscheinlich ist es das, was ich von Anbeginn dieses irdischen Daseins gelernt habe: Es muss immer etwas verändert werden. Denn: So, wie es ist, ist es nicht gut. Sehr wichtig: So, wie es ist, ist es nicht gut genug. Uuuund, gaaanz wichtig: So, wie ich bin, das reicht nicht, um gut zu sein. So, wie ich bin, das gehört verändert, weil sonst Katastrophe. Damals fühlte ich mich wie ein Baum. Das ist schon mal recht größenwahnsinnig und genau: da muss etwas umgestaltet werden. Solche Äste, die kreuz und quer wachsen... Na, wo kommen wir denn da hin? Großer Gott, was soll bloß mal aus mir werden? Solche Auswüchse an Phantasie müssen weg. Weg damit in den Müll! Biomüll, wir sind schließlich anständige Leute. Da muss man schon vernünftig sortieren. Stopp! Das war. Das war wahr. Jetzt bin ich erwachsen und kann mir meine Gärtner, wenn ich denn meine sie zu brauchen, selbst aussuchen. Apropos Aussuchen - ja, ich suche immer wieder. Ich möchte wachsen. Aber muss ich mich dazu krass verändern? Um beim Baum zu bleiben: Nimmt sich unsere japanische Kirsche vor, dieses Jahr jetzt endlich mal professionell zu blühen und obendrein mindestens zwanzig Zentimeter an Höhe zu gewinnen? WTF, sie lebt einfach und erfreut mich wie jedes Jahr im Frühling mit ihrem sanften rosa Zauber. In geführten Meditationen wird oft vermittelt, es wäre wohltuend, im Hier und Jetzt anzukommen. Doch, kaum bin ich da gelandet, wird von Veränderungen gesprochen, die wir uns wünschen. Da werden alle unsere Sehnsüchte wachgeküsst. Dass wir uns einen Partner wünschen, eine liebevolle Beziehung, liebe Freunde und einen tollen Job. Dass wir unsere verrücktesten Ideen umsetzen, logischerweise mit genug Geld auf dem Konto... Und - merkt ihr den Trick? Wir werden über liebevoll gestrickte Brücken aus Sehn-Süchten in ein Labyrinth der Träume geführt. Wenn wir labil sind, wie ich zum Beispiel, kann das zu beachtlichem Chaos im Kopf führen. Erschüttert blicken wir auf einen imaginären Trümmerhaufen, denn diese schönen Sachen, von denen die Rede ist, die sind nicht real. Sie sind verdammt noch mal nicht da!!! Und was bedeutet das? Unsere Gegenwart reicht nicht, sie ist nicht gut genug. Es muss anders, weil in diesem Fall selbstverständlich - besser - werden! Wir müssen da ran. Unser Jetzt ist unzureichend. Und weil uns das im höchsten Maße belastet, hören wir uns die nächste und die übernächste Meditation an, schauen das hundertste Video über das Wachstum unserer heiligen Seele und fahren nach Corona zum fünfzigsten Seminar. Wir sitzen verfallen in der Sucht nach Selbstoptimierung wie das Kaninchen vor der Schlange, lassen uns hypnotisieren und verlieren dabei einen gehörigen Teil unserer Zu-Frieden-Heit. Dabei ist es jedoch bewiesen, wie gesundheitsfördernd der Innere Friede wirkt. Also, meine Meinung: Cool down! Du bist super, wie du bist. Du bist toll, auch wenn du bestimmt Dinge nicht "schaffst". Dein Partner/Kollege ist klasse, obwohl er sich vielleicht nicht für das Webinar interessiert, welches du gerade absolvierst. Dein Nachbar ist ein großartiger Künstler trotz der originellen Klarinetten-Töne, mit denen er dich immer auf's Neue beglückt. Und wenn deine Kinder anders ticken als du, sie sind wundervoll. Es ist gut, wie es ist. Natürlich gibt es Ausnahmen. Aber daran kann man ja arbeiten. Dafür gibt es schließlich Bücher und Kurse... Das hier soll kein Bashing von wertvollen Lehrern und Coaches sein! Ich bin vielen Menschen aus dieser Richtung unfassbar dankbar. Mir geht es um die Relation. Um das Verarbeiten. Um das auch mal Sein-Lassen. Das Durchatmen und Vertrauen in die eigenen Kräfte, die eigene Resilienz. Wir sind stärker, als wir denken. Wir sind erfolgreich. Wir leben. Jetzt. Es gibt sie, diese magische Momente, welche man nie vergisst.
Sie ändern nicht dein Leben, aber sie brennen sich tief in deine Seele ein. Einen solchen Augenblick erlebte ich bei einem Liederabend vor einigen Jahren. Ich war selbst Schülerin der Abraxas Gesangsschule in Hamburg. Es gab einen Abend, an dem alle Schüler auftraten und so auch Rolf. Er sang von Milow das Lied "You don't know". Sein Gesang brach mir das Herz und mir liefen nur so die Tränen über das Gesicht. Wie traurig und berührend doch oft die Popsongs oder Rockballaden sind. Menschen wie ich, die nicht so super "fluent" im Englischen sind, verstehen, wenn überhaupt, oft nur die Hälfte der Texte. Aber vielleicht ist das ein Segen, weil uns dann die Stimme umso mehr erreichen kann. Rolfs Stimme hat mich umgehauen. Andere haben auch tolle Dinge vorgetragen, aber "You don't know" ist bei mir hängen geblieben. Weil es sein Lied war. Weil er es fühlte. Weil das Leben ihn "gezeichnet" hatte. Und dieses "gezeichnet" ist die Schnittstelle zu meiner Gegenwart. Beim Händewaschen schaute ich heute in den Spiegel und dachte: "Ja, verdammt noch mal, das Leben hat dich ganz schön gezeichnet, Ines." Ich meinte: "Mensch, du hast ganz schön was durch." Und plötzlich wurde mir bewusst, was für ein Wunder es ist, dass das Leben uns "zeichnet". Wir kommen schon auf eine gewisse Weise als beschriebene Blätter Papier auf die Erde. Und dann gesellt sich noch das Leben als Künstler dazu und beginnt zu malen. Zu formen, zu graben. Daher die Furchen um den Mund. Die Linien unter den Augen und auf der Stirn. Daher diese einzigartige Mischung von Leben und Tod in unseren Augen. Eine Mixtur aus Freude, Liebe, Leid, Traurigkeit und Ergebenheit gegenüber dem Schicksal. Ja, und wer mich sieht, hat keine Ahnung von mir. Er sieht eine Frau mit blonden Haaren, die nicht mehr jung ist. Aber er hat keine Ahnung, was in mir vorgeht, wo mein Himmel und wo meine Hölle ist. Umgekehrt natürlich genauso. Ich habe auch keinen Plan von den meisten Menschen, denen ich begegne. Nur eine Ahnung und manchmal eine goldene seelische Verbindung zu ihm, wenn es das Leben so will und wir beide offen dafür sind. Es kann ebenso geschehen, dass der Schatz nur in einem Menschen funkelt und der andere es gar nicht bemerkt. Man geht auseinander. Der eine verzaubert, der andere womöglich unverändert. Das kann man als tragisch einordnen. Oder auch nicht. "Die Wege des Herrn sind unergründlich", steht in der Bibel. Die Wege der Seele sind unergründlich und das ist gut so. Dadurch haben wir immer wieder auf's Neue die Gelegenheit uns voller Faszination und Demut dem Mysterium des Menschseins, des Daseins hinzugeben. Weil wir keine Ahnung haben, keine Ahnung... You don't know (Milow) Sometimes everything seems awkward and large Imagine a Wednesday evening in march Future and past at the same time I make use of the night and start drinking a lot Although not ideal for now it's all that I've got It's nice to know your name You don't know, you don't know You don't know anything 'bout me An ocean, a lake, I need a place to drown Let's freeze the moment because we're going down Tomorrow you'll be gone, gone, gone You're laughing too hard, this all seems surreal I feel peculiar, now what do you feel You think there's a chance that we can fall You don't know, you don't know You don't know anything about me What do I know, I know your name You don't know, you don't know You don't know anything about me anymore I gave up dreaming for a while I gave up dreaming for a while I've noticed these are mysterious days I look at it like a jigsaw puzzle and gaze Wide open mouth and burning eyes If only I could start to care My dreams and my Wednesdays ain't going nowhere Baby, baby, baby, you don't know You don't know You don't know You don't know anything 'bout me What do I know, I know your name You don't know, you don't know You don't know anything 'bout me Baby, baby, baby, you don't know You don't know You don't know You don't know anything 'bout me anymore God moves in mysterious ways. Mein Mann hat die letzten Tage viel aufgeräumt und Vergessenes gefunden.
Ich habe die letzten Tage viel aufgeräumt und Vergessenes gefunden. Es gab so Manches, ich wusste gar nicht mehr, dass ich es besitze. Nein, ich komme jetzt nicht mit Minimalismus um die Ecke. Das ist eine interessante Geschichte, aber darüber schreibe ich ein anderes Mal. Es geht um einen alten Fotoapparat. Um eine Zeichnung, die die blaue Stunde darstellt. Nebenbei gesagt, ich liebe die blaue Stunde, wenn die Welt in den Komplementärfarben gelb und blau leuchtet, um die Nacht einzuladen. Es geht aber nicht nur um materielle Dinge. Es geht auch darum, im Kopf und im Herzen aufzuräumen. Wer und was darf bleiben, was gehen? Vorher die Frage: Was ist denn überhaupt da? Man kann sozusagen Frühjahrsputz in Körper, Geist und Seele machen. Und was passiert, tut man es denn? Es wird lichter, leichter. Friedlicher. Nach einiger Anstrengung, zuerst gibt es mitunter Chaos. Aber danach ist es wie nach dem Joggen. Man hat tief durchgeatmet und es fällt nicht mehr so schwer, sich weiter durch seinem Alltag zu navigieren, weil der Blick unverstellter geworden ist. Es macht weniger Mühe, seinen inneren Frieden zu finden und diesen Zustand weitestgehend zu erhalten. Trotzdem erfordert es einen langen Atem und ist wohl ein lebenslanger Prozess. Andererseits: Zu wissen, dass das Finden, das Sich-Finden, das Frieden-Finden über lange Zeitachsen erfolgt, nimmt viel Druck. Ich glaube, dranbleiben ist der Trick. Immer mal wieder aufräumen. Immer wieder anfangen. Immer wieder ausmisten. Dann - und jetzt kommt mein Schalk wieder durch - wiehert dein inneres Pferd voller Freude. Ihr könnt euren nächsten Ausritt genießen. Du hast getan, was dran war und dein Pferd hat einen sauberen Stall. Dankbar frisst es dir aus der Hand. Möhren sollte man als Ganzes füttern. Oje, ich schweife ab. Also genug vom Pferd... Ich schließe diesen Text lieber mit einem wiedergefundenen Zitat: "Der innere Friede, das ist etwas anderes als Zufriedenheit. Der innere Friede, das ist das Licht, das uns inmitten unseres Elends und unserer Schuldhaftigkeit die Ahnung einer erdumfassenden Liebe gibt." Luise Rinser Möge neben der Liebe ebenso der innere Frieden unser Kompass sein. "Mit den Augen Gottes gesehen, ist alle Finsternis Weg zum Licht.
Sie ist Irrtum und nicht Sünde und Schuld, auch wenn sehr viel Böses durch irrtümliches Denken erschaffen wird." ( aus dem Buch: "Ich bin ein glückliches Gotteskind" von Christa Schneider ) Mein Mann und ich sind beim Renovieren eines Zimmers. Ein Zimmer reicht wirklich. Was sich alles ansammelt, es gibt viel zu sortieren, auch auszusortieren. Wieso dieses Zitat oben? Es ist mir in die Hände gefallen. Beim Durchsehen von Tagebüchern und anderen Aufzeichnungen. Ich dachte, dass es jetzt passt. Ein gnädiges Substrat. Worte, die nicht verurteilen. Schwarz/Weiß bringt oft keine Lösungen, stattdessen nur noch mehr Unfrieden. Es ist selten förderlich, sich aufzuregen, mit allem zu hadern. Ich glaube, es braucht Hoffnung und Zuversicht. Gerade, wenn ein Sturm im Außen wütet. Es nützt kaum, ihn als Stürmchen oder lauen Wind schönzureden. Es nützt ebenso kaum, in ihm eine Apokalypse zu verorten. Unsere Buddha-Natur ist gefragt. Unser Rückgrat. Unsere Solidarität. Es ist, was es ist. Eine Krise. Eine Herausforderung. Es schmerzt. Es ist kein Sprint. Vermutlich ein Marathon. Wenn wir Glück haben, ein Halbmarathon. Wenn wir noch mehr Glück haben, einer mit Pausen. Ich habe das Gefühl, dass in diesem erzwungenem Mangel an Kontakt die Menschen auf eine andere Weise zusammen rücken. Wir werden uns vieler, vorher als selbstverständlich hingenommener Geschenke bewusst. Im weißen grellen Licht ist nichts zu erkennen. Wie in absoluter Dunkelheit. Da sind wir sozusagen blind. Nur im Spiel von Licht und Schatten ist es uns möglich, die Realität zu "sehen". Das passt nicht unbedingt zu den eingangs zitierten Sätzen. Aber es muss nie und nimmer alles passen. Die Phase, in der wir gerade stecken, ist ja gleichermaßen extrem hinderlich, wenn nicht sogar beängstigend. Der Widerspruch gehört zum Leben. Das Paradoxe existiert und grinst um die Ecke. Halten wir den Fokus auf das Menschsein, auf unsere Liebe zueinander. Gehen wir den Weg, der in den Nebel führt. Hinter dem Berg wechselt das Wetter. Wenn wir das Große Los ziehen, ist dort eine weite, von der Sonne geküsste Wiese. Wir werden froh sein, auf unserer Gratwanderung nicht aufgegeben zu haben. "Mit den Augen Gottes gesehen, ist alle Finsternis Weg zum Licht." Bei uns im Garten nistet eine Elster, hoch oben im Geäst eines Baumes.
Der Baum hat sich vor vielen Jahren ganz von alleine auf unserem Grundstück angesiedelt. Im Spätsommer verliert er Früchte, die ich nicht identifizieren kann. So etwas zwischen Kirsche und Vogelbeere. Alle Vögel lieben diese Delikatesse und veranstalten jedes Jahr zu gegebener Zeit auf's Neue ein pflanzliches Gemetzel. Ja, die Elster... Die Elster warnt vor Diebstahl und sorgt oft selbst dafür, dass die Brut anderer Vögel nicht durchkommt. Die Elster ist eine Räuberin. Auch, wenn sie sehr schön anzusehen ist. Das ändert nichts an der oben genannter Tatsache. Und nun hat sie bei uns ein Nest gebaut, ganz von alleine... Bei dieser Gelegenheit muss ich daran denken, wie im Busch neben unserem Haus einst ein Amselpärchen ihre Jungen aufzog. Das war vielleicht eine verrückte Zeit! Ihr müsst nämlich wissen, dass ich ab und zu Tiere verstehen kann. Unsere Hündin und ich jaulen vor fast jedem Spaziergang im Duett. Dabei einigen wir uns auf eine Route, welche wir zurücklegen wollen. Mit den Katzen aus der Umgebung diskutiere ich über das Wetter und den Straßenverkehr. Aber zurück zur den Amseln: Eines Tages schlüpften die Kleinen. Anfangs verhielten sie sich "normal". Mama und Papa Amsel hatten viel zu tun. Wenn es Futter gab, machten die Küken ihre Schnäbel weit auf. Aber was hörte ich? Ein kleiner Vogel schrie: "Ich, ich, ich!" Konnte ich meinen Ohren trauen? "Ich, ich, ich!" Die Vogeleltern bevorzugten das egoistische kleine Wesen. Es gab etwas Streit. So klein die Lütten auch waren, zanken konnten sie früh. Und auch lernen. Denn, bald schallte es im Chor: "Ich, ich, ich!" Meine Güte, womit hatten die Eltern diese Kinder verdient? Trotzdem sorgten die Großen mit viel Hingabe für ihren Nachwuchs, bis dieser flügge wurde. Die jungen Vögelchen machten bald den Garten unsicher und überall schallte es: "Ich, ich, ich!" Genervt zählte ich nach, wie viele es waren: Fünf. Fünf kleine Hähne. Oder sagt man besser: Amselmännchen? "Ich, ich, ich!" Tja, liebe Leute, was soll ich euch sagen? Die blieben dabei. Prägung nennt man das. Sie haben später, als sie das heiratsfähige Alter erreichten, keine Braut abbekommen. Tauchte ein Weibchen auf, ertönte es gleich: "Ich, ich, ich!". Und die kluge Vogeldame machte sich auf und davon. Überall gibt es Veränderungen. So kamen mit der Zeit andere gefiederte Geister. Viele Krähen. Die duldeten kein "Ich, ich, ich!". Da war Ende mit dem Tamtam. "Ich, ich, ich!" suchte das Weite und nach den Krähen gesellten sich neue Amseln aus der Umgebung und sonstige diverse Singvögel dazu. Und nun, leider eine Elster. Man kann sich halt seine Vögel nicht aussuchen... |
Inés Witt
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