Ich gehöre zu den Menschen, die sich nicht vorstellen können, wie es im Winter ist, während sommerliche, flirrende Hitze mich in den Schatten flüchten lässt, Scharen von Libellen und Schmetterlingen unsere Wiesen beleben, sich fliegende Blumen zu denen mit einem festen Standort gesellen und abends die Grillen zirpen.
Ich gehöre zu den Menschen, die im Sommer am liebsten all ihre warmen Kleidungsstücke weggeben würden, weil sie nicht gebraucht werden. Es ist doch so gar nicht kalt… Immer wieder bin ich erstaunt, wenn sich die Natur ihrem Wandel hingibt, ohne nachzudenken. Irgendwann werden die Tage kühler, man braucht eine Jacke und dann ist er da, plötzlich, der erste Herbsttag: wolkenverhangen, leise verregnet, nur das Laub zieht einige oder viele, je nachdem, farbige Pinselstriche über die Landschaft oder Straßen. Zögerlich verträumt zeigen sich knorrige Bäume mit ihren ausladenden, bemoosten Ästen; am Waldrand strecken sie fast flehend ihre großen graubraungrünen Hände aus mit der Bitte um ein wenig spätes Licht. Auf Grashalmen bilden sich filigrane, durchsichtige Perlenketten, die mir die Illusion vermitteln, dass Pflanzen eitel sein könnten. Soviel Schmuck. Es duftet nach Pilzen und man hört die Kraniche, lange bevor man sie am Himmel erspähen kann. Auf einem Hügel bei uns in der Nähe finden sich seltsame Pflanzen ein, die aussehen wie Igel. Eine große Versammlung findet in aller Stille statt und man kann sich denken, sie werden lange bleiben, auch die heftigsten Stürme überdauern. Dann stehe ich da und kann mich nun wiederum kaum in den Sommer hineinfühlen, denn es ist jetzt Herbst und den Herbst habe ich von allen Jahreszeiten schon immer am meisten geliebt. Auch der Winter ist mir unfassbar fern. Im Grunde bin ich, zumindest was den Jahreslauf anbelangt, tief im Hier und Jetzt verwurzelt. Ich schaue auf die Spinnweben an unserem Hauseingang und weigere mich, mir dort weisshellblaue Eiszapfen vorzustellen . Die gibt es nicht in meiner Welt. In meiner Welt spazieren Raben und Krähen über endlose abgeerntete Felder. In meiner Welt verschlucken Nebelschwaden alles, was nicht sichtbar sein möchte in diesem Moment. Und ich strecke meine Hände aus, fast flehend mit der Bitte um ein wenig spätes Licht. Nach dem Seminar im September setzte ich mich noch an einen Teich im nahe gelegenen Park und ließ das Wochenende Revue passieren.
Ich kam mir vor wie nach einer Heldenreise, froh, das Abenteuer Fortbildung überstanden, durchlebt und auch genossen zu haben. Libellen, zeitlose zarte Tiere, schwirrten über das auffallend trübe Gewässer. Der Wind streifte die Oberfläche des kleinen Tümpels und eine sanfte Brise wehte der Klarheit eine Schneise. Mit den aufkommenden Wellen nahm der milchig glanzlose Teil immer mehr ab und Sonnenstrahlen begannen sich im Wasser zu spiegeln. Wobei mir das Blinde, das Glanzlose auch sehr gefiel. Es kam so schön mystisch daher und wurde, wie ich bemerkte, augenscheinlich durch spätsommerlichen Blütenstaub verursacht. Vorhin war eine lärmende Horde Jugendlicher vorbeigezogen. Später kam eine Mutter mit zwei kleinen Mädchen. Erst als ich still alleine übrigblieb, begannen die Fische im Weiher zu springen. Ich glaube, es gibt sie überall, diese fliegenden Fische. Sie begegnen mir immer wieder. Was sie mir wohl sagen wollen, wenn das überhaupt der Fall sein sollte? „Libellen und fliegende Fische haben Vieles gemeinsam“, mit diesem Gedanken verließ ich den zauberhaften Ort. Ein weißer Schmetterling begleitete mich zum Hotel den gesamten Weg über einige Straßenkreuzungen hinweg. Das klingt ziemlich unrealistisch. Ich weiß. Manchmal ist man nicht im falschen Film, sondern ganz im Gegenteil: Man macht eine märchenhafte Erfahrung... Ich war damals sehr jung und wollte abnehmen.
Wahrscheinlich fing zu diesem Zeitpunkt alles an: Essen war lästig und gefährlich. Am besten nur Wasser trinken und Nahrung zu sich nehmen, wenn der Kollaps drohte. Ich war erfolgreich. Man fragte mich, ob es schon klappert... Die Haare trug ich sehr kurz und liebte den Style von Annie Lennox. Nun: Zwischenbilanz. Ich bin normalgewichtig mit Trend nach unten. Und – man kann es nicht leugnen – ich bin eher alt. Nicht, dass der Rollator wartet, aber jung ist nicht gerade mein Adjektiv. Trotzdem: Ich wollte wieder abnehmen und es hat nicht funktioniert. Siehe Alter und so weiter... Neulich begegneten mir sehr inspirierende Menschen und ich holte ein uraltes Kleid hervor. Es passte noch, Gott sei Dank!!! Ich vergaß die Zahlen, die Dogmen und begann mich darauf zu freuen, dieses vergessene Stück Stoff wieder zum Leben zu erwecken. Liebe Menschen, ärgert euch nicht, dass ihr einen Körper habt, freut euch, dass er euch beheimatet. Und liebe Frauen, ich schließe mich da mit ein, kleidet euch, wie es euch beliebt und feiert das Leben. Ob in Jeans. In einem Teil, für das es bis jetzt keine Klassifizierung gibt. Oder in einem Kleid. Egal: Feiert! Nein, es geht hier nicht um Transsexualität, sondern eher um Transausstrahlung.
Ich bin blond, mittelgroß und relativ schlank, bzw. richtig schlank. Wie man es nimmt... Dazu habe ich eine nette Ausstrahlung. Mich fragen gern mal Menschen nach dem Weg. Nun zum Hund an meiner Seite, der eine Hündin ist: Ihr Fell leuchtet golden, sie selbst ist lieb und freundlich. Ich würde des Öfteren mit Freude ein Hüne sein, ein großer Kerl, mit dem sich niemand wirklich anlegen will. Und meine liebreizende Amy könnte dazu noch mit roten Augen daherkommen. Dann würde uns nicht dauernd irgendein Honk belästigen. Seinen Hund auf Amy zurasen lassen. Mich wie eine Irre behandeln, bloß weil ich höflich darauf hingewiesen habe, dass der andere Hund angeleint gehört in der Stadt. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als Respekt. Dass Grenzen geachtet werden. Aber mit meiner Bambi-Schäfchenaura lade ich förmlich Menschen ein, mich von oben herab zu behandeln. Da wird sich nicht entschuldigt für den Hund außer Kontrolle. Da wird die eigene Unzulänglichkeit mir rübergeschoben mit einem süffisanten Grinsen. Und gesagt, dass alles gut ist und sich weiter unterhalten. Ich verklemmte Person soll Amy an der Straße gefälligst ableinen, damit deren Superpudel mit ihr spielen kann. Wenn ein Hund überfahren wird, tja, auf Straßen fahren Autos, das kommt vor, dann ist das Pech. Shit happens. Dann kann man ja die bösen Autofahrer verklagen und sich einen neuen Superpudel kaufen. Das will ich aber nicht, diesen ganzen Mist. Beschütze, was du liebst. Beschütze, was dir am Herzen liegt. Und Amy liegt mir am Herzen. Im nächsten Leben werde ich ein Kerl, ich schwöre! |
Inés Witt
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