Vor vielen Jahren lebte in der Nähe der Tweel in Rostock ein kleines Mädchen. Es muss Anfang der Siebziger Jahre gewesen sein. Ab und zu gab es Besuch aus dem goldenen Westen. Besonders freute sich das Mädchen, wenn ihre Lieblingsgroßtante Hedwig aus dem wunderschönen Glücksburg kam. Irene, so hieß das Kind, ging oft mit ihrer Tante im Barnstorfer Wald spazieren. Manchmal setzten sie sich auf eine Bank und Hedwig rauchte eine schicke Westzigarette. Sie ließ Irene auch mal ziehen, aber der schmeckte es nicht. Hedwig und Irene trieben viel Unfug. Sie spielten verrückte Sachen, machten Theaterszenen nach und gaben ihren Protagonisten lustige Namen, wie zum Beispiel „Pieps“ und „Pups“. Hedwig, oder auch besser: Tante Hedi, erzählte ihrer Großnichte viel von ihrem Leben, besonders gern, wenn es sich um skurrile Vorfälle handelte.
Folgendes wurde zu einer wahren Familienlegende: Eines Tages machte sich Tante Hedi mit ihrem Wellensittich Butzi auf den Weg zu ihrer Schwester Carla in Rostock. Sie fuhr wie immer mit der Bahn. Tante Hedi nahm ihren Vogel auf jeder Reise mit. Die Leute, die sie besuchte, besaßen stets einen Vogelkäfig oder eine Voliere. Und wenn dies nicht der Fall war, hatte die Tante bei ihren Verwandten und Bekannten jeweils ein Ersatzvogelhaus deponiert. So stand auch bei Carla ein stylischer großer Käfig für den Butzi parat. Tante Hedi kam aus ihrer Heimatstadt Glücksburg und musste in Hamburg umsteigen. Sie wartete dort auf dem Hauptbahnhof auf den Zug in den Osten. Ihr Butzi saß in einer kleinen Transportbox. Da passierte es. Der taffe Sittich büxte der Tante auf diesem riesigen Bahnhof aus. Nun, besagter Butzi entwischt, als Tante Hedi ihm ein Salatblatt geben möchte. Die Tür war einen klitzekleinen Moment offen... Der Wellensittich fliegt über einen wartenden Zug und landet schließlich auf einem Stahlträger unter dem Bahnhofshallendach. Die Tante, eine etwas rundliche, sehr ansehnliche Dame rauscht hinterher. Und fängt an zu flöten: „Butzilein, komm’ zu Mutti!!“ Die Passanten lachen. Schütteln die Köpfe. Was für eine vogelige Frau!! Tante Hedi wedelt mit ihrem Hut. Sie ist extravagant und modern gekleidet. Ihr ist es absolut egal, wie die Menschen um sie herum reagieren. Ihr Vogel!! Sie verpasst ihren Zug. Tante Hedi zwitschert und lockt über eine Stunde. Da kommt der Ausreißer doch tatsächlich zu seiner Besitzerin zurück. Er landet auf ihrem Finger und mit einer eleganten Geste bugsiert sie ihren Liebling in den Transportkäfig. Tante Hedi strahlt und die Zweifler und Lacher applaudieren. Nicht auszudenken, was für ein Schicksal der Butzi hätte erleiden müssen, wenn Irenes Lieblingsgroßtante nicht so beharrlich geblieben wäre. Verschreckt durch die vielen Menschen um sie herum... Es gab schon damals auf dem Hamburger Hauptbahnhof eine Menge Tauben. Und die hätten den kleinen hellblauen Exoten mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gerade adoptiert, oder was meint ihr? Überall sprießt das junge, frische Grün des Frühlings. Die Vögel zwitschern, bauen Nester. Wachstum, Sonne, Licht, Wärme, Neugeburt und Gedeihen. Neubeginn.
Und ich schreibe über Trauer? Wie unpassend... Eine Eigenschaft der Trauer ist, man kann es sich nicht aussuchen, wann ihre Zeit kommt. Niemand kann entscheiden, jetzt verliere ich einen geliebten Menschen, ein geliebtes Tier an eine andere Welt. Es passiert. Wie sich das Leben ergibt, findet auch der Tod statt. Wenn es einen umhaut, haut es um. Das ist oft wenig im Vergleich zu dem, was derjenige, der gehen musste, erlitten hat. Diese Zeit HINTERHER ist mir heilig. So wie die Stunden heilig waren, die noch blieben. Sie waren ein Geschenk und auch ein Weg, selbst zu wachsen. Die Trauer ebenso ist ein solcher Weg und jeder Mensch geht ihn auf seine Weise, umfangen von einer ganz speziellen Aura. Was auf diesem Weg geschieht, was ich einlade und heraus bitte, liegt in meiner Hand. Die Aura dieser besonderen Zeit scheint unter anderem als Brücke zu den Verstorbenen zu fungieren. Diese Brücke wird sich im Laufe der Jahre verändern. Das weiß ich aus Erfahrung. Sie wird manchmal durchsichtiger. Einige Brücken erscheinen nur ab und zu, aber sie verschwinden nicht. Wie alles, das uns umgibt, nie wirklich abhanden kommen kann. Es gibt heutzutage so viele Amateure unter den Künstlern, die die echten verdrängen und die Wege verstopfen, die einst von den Leuten beherrscht wurden , die viel Mühe und Kosten in die Gestaltung ihrer Kunst stecken.
So eine Beschwerde habe ich in etwa gelesen, irgendwo im Internet und diese Worte sind in mir hängen geblieben. Hängen geblieben, wie ein Donnergrollen oder das Getöse von LKW’s, das einen nicht verlässt, auch wenn die Fahrt auf der Autobahn längst geschafft ist. Solche Worte verkörpern den Geist des Roten Ozeans, des Haifischbeckens, in dem nur der Stärkste überlebt bzw. zumindest lediglich die Stärkeren eine Daseinsberechtigung haben. Ich schreibe und singe meine Lieder aus Leidenschaft und werde dabei höchstwahrscheinlich immer eine Hobbykünstlerin bleiben. Aber: Ich verdränge niemanden, verstopfe keine Wege und stelle auch keine Person in Frage, die Kunst von der Pike auf studiert hat. Im Gegenteil: Ich verneige mich vor einem solchen Menschen. Und: Ich beneide. Und: Ich bereue. Sollte man nicht, aber, so what, ich bereue. Bitte jetzt nicht falsch verstehen. Ich bin sehr dankbar und wertschätze mein Leben. Ich bin vor allem unfassbar glücklich wegen der wundervollen Menschen meines Inner Circles. Nur – wäre ich noch einmal jung, ich würde meine Zeichnungen in einer Bewerbungsmappe sammeln und mir dann alle Mühe geben, einen entsprechenden Studienplatz zu ergattern. Verdammt, ich würde. Und als Kind Klavierunterricht nehmen. Nicht erst mit Vierzig. Ich würde. Es war aber nicht. Und es war nicht für Viele. In Italien haben sich früher die Hausfrauen mittels ihres Gesangs ausgetauscht. Wie cool ist das denn? Und da wurde auch niemand verdrängt oder es wurde etwas verstopft. Denn diese Frauen schwammen im Blauen Ozean. Im Blauen Ozean der Kreativität ist Platz für alle. Ich bin überzeugt, jeder Mensch hat das Recht sich dort zu tummeln, wenn er den Ruf vernommen hat. Leute, lasst uns zeichnen, Musik machen, singen, tanzen, töpfern, schreiben! Was auch immer Dein Herz möchte. Das ist das Leben. Das ist Dein Ausdruck! Ohne Herrschaftsanspruch. Das ist klasse und macht Freude. Nichts ist trauriger als ein Leben ohne Schwung. Surven wir die Welle und verbreiten wir unser Licht. „Licht senden in die Tiefe des menschlichen Herzens, ist des Künstlers Beruf“ – ein Zitat von Robert Schumann. „Licht finden im eigenen Herzen und Licht senden in die Tiefe anderer Herzen, ist des Künstlers und aller Menschen Erfüllung “, könnte man auch sagen... Manchmal ist es von Vorteil, wenn man empfindlich ist. Ich zum Beispiel friere sehr schnell. Auch, wenn es zieht, ich merke es sofort.
Es ist mir ein Rätsel, wie gut manche Menschen mit Klimaanlagen klarkommen. Also, wieso ist es manchmal von Vorteil, empfindlicher zu sein als die meisten? Ich saß im Zug nach Aachen. In einem Abteil. Einige Männer waren beschäftigt mit ihren Handys oder Laptops. Ruhige, angenehme Vertreter. Alles gut, der Zug fährt pünktlich los. Aber irgendwie ist es kalt. Ich ziehe mir meine Jacke wieder an. Es ist wirklich kalt. Ich rutsche hin und her, bewege meine Füße. „Ist ganz schön frisch hier, finden Sie nicht auch?“, spreche ich den Mitreisenden an, der am Fenster sitzt. Unter dem Fenster ist nämlich ein Schalter. „Wird gleich wärmer“, beruhigt er mich. Ich drehe zur Sicherheit noch an einem anderen Knopf über der Schiebetür. Fahrkartenkontrolle. Ich friere. „Können wir nichts machen“, die Auskunft des Schaffners. Nichts hilft. Es ist arschkalt. Die Männer sind hart im Nehmen. Ich bin es nicht, packe meine Sachen und ziehe um. In das nächste unterkühlte Abteil. Dort sitzen Frauen - deren Wahrnehmung liegt meiner näher. Sie frösteln auch. Wieder ziehe ich um, aber diesmal gehe ich solange, bis es warm wird. Bis zum Speisewagen. „Bei Ihnen ist es schön mollig“, freue ich mich und bestelle mir zum Aufwärmen einen Kräutertee. Ich bleibe. Eine Stunde später: „Ach, hier sind Sie gelandet“, die Frauen von vorhin holen sich jetzt auch etwas Warmes. „Wir haben inzwischen Eisbeine.“ Ich fühle mich pudelwohl im warmen Speisewagen und bin dankbar dafür, dass ich als Erste die Kälte gespürt, zu meiner Mimosenhaftigkeit gestanden und gut für mich gesorgt habe. Die Fenster sind schön groß. Eine graue Winterlandschaft rast vorbei. Graupelschauer, Schnee und Regen im Wechsel draußen. Jetzt noch einen Kaffee. Der Caterer macht sich irgendwelche Notizen. „Der geht auf mich“, lächelt er mich an. Ich denke, ich könnte seine Mutter sein. Und wahrscheinlich ist seiner Mutter auch öfter kalt. Ich bedanke mich herzlich. Ach, wie schön ist es doch im Speisewagen. Eine Oase der Wärme und Herzlichkeit. In diesem Zug hat sich leider bestimmt so mancher eine Erkältung eingefangen, weil er einfach nicht rechtzeitig angefangen hat zu frieren... |
Inés Witt
|