Mit einem lauten Zischen kam der Bus zum Stehen. Leonie erhob sich langsam und stieg hinten aus, zögerte. Nachdem sie sich ein Herz gefasst hatte, ging sie wieder nach vorn und stieg erneut ein. Sie zeigte dem Fahrer die Karte und deutete auf das Kreuz, das Rico eingezeichnet hatte. Leonie bewegte ihre Finger, als spazierten sie irgendwo hin und hob die Schultern. Als der Fahrer sie fragend ansah, sagte sie nur ein Wort: “Mario“.
Die Art und Weise, wie sie diesen Namen aussprach, ließ den Fahrer schmunzeln. Er zog seine Augenbrauen fragend hoch und wartete ab. Daraufhin machte Leonie eine recht annehmbare Pantomime-Vorstellung, beinhaltend die Begriffe „Tankstelle“, „junger Mann“ und „unbedingt wiedersehen“. Der Busfahrer winkte seinen Kollegen und rief ihnen etwas zu, was Leonie nicht verstand. Dann fuhr er los zu Leonies Ziel, er chauffierte sie direkt vor die Eingangstür des Tankstellenshops. Eine galante Geste, ein herzliches Lachen und fort war er. Leonie freute sich riesig, als sie sah, dass Mario tatsächlich da war, nicht frei hatte, Urlaub oder sonst etwas. He, was für ein Glück! Himmel, endlich hatte sie auch mal richtiges Glück. Betonung liegt auf „richtiges“, also nicht nur ein bisschen, nein, das war der Hammer! Und himmlisch war auch, wie Mario auf Leonies Auftauchen reagierte. Alles, was sie sich erträumt und gewünscht hatte, wurde wahr. Sie hatte sich auf den ersten Blick in Mario verliebt und wie es schien, echote es genauso euphorisch zurück. Nun, das änderte sich allerdings recht schnell. Jeden Tag starb ein Stück ihrer Fröhlichkeit, ihrer Verliebtheit. Ich glaube, etwa eine Woche nach ihrer zweiten Begegnung begann ihre Beziehung bzw. Freundschaft problematisch zu werden. Oder besser gesagt: Nach einer Woche Zusammensein mit Mario fing Leonie an zu ahnen, was für ein Mensch hinter diesem so schönen, ebenmäßigen Gesicht stand. Nicht nur ein liebenswerter, charmanter junger Mann, sondern auch ein Mann mit Eigenschaften, die nicht so sympathisch sind. Ich habe mal den Spruch gehört: „Schönheit verdirbt den Charakter.“ So ähnlich muss es bei Mario gewesen sein. Auf alle Fälle bildete er sich eine ganze Menge wegen seines angenehmen Äußeren ein. Er fand sich schlichtweg toll. Und die Mädchen oder Frauen, denen er seine Aufmerksamkeit schenkte, sollten sich glücklich schätzen. Mario konnte sehr nett sein, wenn er das sein wollte. Er war oft humorvoll, tolerant und hilfsbereit. Eigentlich ein netter Kerl. Aber er konnte auch faul sein, unangenehme Dinge an andere weiterdelegieren, mürrisch sein, sich langweilen und hinter den Frauen her sein. Man kann einen Menschen halt immer nur im Set bekommen entweder mit allen Macken oder gar nicht. Jeder hat welche. Macken. Leonie auch. Aber dagegen war Mario ein derber Brocken. Ich kann und will nicht alles detailliert aufschreiben, was zwischen den beiden vorgefallen ist. Irgendwie geht das niemanden etwas an. Deshalb hier die Kurzfassung mit ein paar Sachverhalten gespickt, die meiner Meinung nach das Ganze etwas verständlicher machen, als es sonst wäre: Vor genau zwei Jahren hatte Marios Mutter seine Wohnung aufgeräumt und alles blitzeblank geputzt. Sie ist halt eine ordnungsliebende Person. Hatte damals das Chaos nicht länger mit ansehen können. Mario, im Stillen höchsterfreut wegen der erledigten Sisyphos-Arbeit, hatte es nicht zugeben wollen, dass es ja längst dran gewesen und für ihn okay war. Er machte einen Riesenaufstand deswegen und schrie: „Tu das nie wieder!“ Sein Stolz hatte ihm gesagt, „Bloß nichts zugeben!“ Junge Männer sind manchmal so. Nun, das Ganze fand jetzt in einer veränderten Version statt, nachdem Leonie anfing sich bei Mario wie zu Hause zu fühlen: Sie räumte seine Wohnung auf. Sie räumte sein Leben auf. Und er wusste nicht, ob er das gut oder schlecht finden sollte. Vielleicht wollte er ja doch keine Ordnung. Ich weiß es nicht.. Mario ging immer mehr mit seinen Freunden weg. Leonie las, sah fern, träumte, dachte nach, naja und sie erledigte den ganzen Alltagskram. An einem Abend, mal wieder alleine, machte sie einen Spaziergang. In der Ferne bellten Hunde. Der Mond war voll, ein zarter Hof umhüllte ihn. Die Dämmerung wartete auf die kühle Nacht. Am Horizont duckten sich hoffnungsvoll langgezogene Wolken. Es war so ein Moment, wie wir alle ihn kennen: Du merkst, du bist vollkommen allein mit dir. Da müssen wir alle durch. Es hat etwas Beruhigendes und auch etwas Beängstigendes: Wir sind alle einsame Herzen und können vieles mit niemandem teilen. Andererseits sind wir frei, egal, in welchen Beziehungen wir leben. Wir sind für uns selbst verantwortlich, spätestens, wenn wir unser Elternhaus verlassen oder verloren haben. Also, ich denke, man kann eine Menge daraus machen. Mario und Leonie begannen, sich aus dem Weg zu gehen. Eines Nachmittags, Leonie hing im Garten hinter dem Haus Wäsche auf, konnte sie über dem nahen Feld zwei Greifvögel beobachten. Sie umkreisten sich, die Thermik nutzend, flogen immer höher – mühelos, wie es schien. Die Kreise waren mal groß, mal kleiner. Ihre Bahnen kreuzten sich immer wieder. Jeder Vogel auf seinem Weg hatte den anderen doch nah bei sich. „Mein Gott, neben Mario könntest du nie so deine Flügel ausbreiten“, dachte Leonie. Nein, nicht so frei und genauso wenig geborgen fühlte sie sich an der Seite von Mario. Der Wind wehte ihre Haare durcheinander, ließ die Wäsche flattern. Im Gegensatz zur weißen Wäsche waren ihre Arme braun. So braun war sie nie vorher gewesen. Seit Wochen hatten sie warmes sonniges Wetter. Im Bad war ihr vorhin aufgefallen, wie sehr ihre Haare gewachsen und ausgeblichen waren. Durch die Liebe, die Luft und die Sonne war Leonie schön geworden. Oder sie merkte jetzt endlich, dass sie es war: schön. Schade, dass die Liebe jetzt ging. Energisch verließ sie den Wäscheplatz. Einmal drehte sie sich noch um, betrachtete das Kreisen der Greifvögel, dann wusste sie, dass sie Mario verlassen wollte, musste – wie man’s nimmt. Jedenfalls wollte sie auf einmal nach Hause, zu ihren Eltern, den falschen und den richtigen Freunden. Dort würde sie ihr eigenes Leben anpacken, mit ihren Eltern reden, ihre Vorstellungen durchsetzen. Sie wusste noch nicht genau, was sie im Einzelnen vorhatte nach ihrer Rückkehr. Das wird ihr schon früh genug einfallen. Sie fühlte sich stark und wusste jetzt, neben Mario weiter her leben, seine Wohnung aufräumen, sich hier verkriechen, das wollte sie nicht länger. Leonie wurde ihr Unterschlupf langsam zu eng. Und zu einsam. Sie fing an, ihre Sachen zu packen. Es ist ganz einfach, fortzugehen. Ganz einfach, jemanden zu verlassen. Die Schwere, die Unsicherheit und andere unangenehme Gefühle holen einen meistens erst später ein. Dann, wenn man nicht mehr umkehren kann. Bei Leonie war es anders. Sie wusste, dass die Schwere nicht kommen würde. Zumindest nicht in diesem Sommer. Windstill hingen die Blätter an den Bäumen. Leonies letzte Station vom schönen Land Italien war nicht der Vorort von Rom, in dem Mario wohnte. Leonie schaute sich diese tolle Stadt selbst an: Rom. Als sie sich in ein Straßencafé gesetzt hatte, dachte sie darüber nach, wie sie zurück nach Deutschland kommen kann. Das Gebäude, in dem sich das Café befand, hatte eine runde Glasfront. Sie saß dort und beobachtete, wie verzerrt sich die Passanten in diesen runden Fenstern spiegelten. Lauter Gespenster. Irgendwann erkannte sie sich selbst in den verfälschten Spiegelbildern wieder. Und sie beschloss, sich fortan nicht mehr selbst zu verzerren bzw. sich nicht weiter verzerren zu lassen. Bitte nur noch gerade Spiegel! Der Himmel war grau in grau, die Luft drückend und schwül. Leonie wollte nur noch nach Hause. Sie begriff in diesem Moment die Bedeutung des Wortes „zuhause“. „Heimat ist da, wo ich verstanden werde und verstehe“ hat der Philosoph Karl Jaspers mal geschrieben. Leonie hatte sich vor ihrem Fortlaufen oft nicht heimisch gefühlt in ihrer Heimatstadt, ihrem Elternhaus und Freundes- und Bekanntenkreis. Aber lag das nicht auch an ihr selbst? Sah sie vieles, einschließlich sich selbst, mitunter durch mental verzerrte Brillengläser? Mein Gott, wie oft werden wir getäuscht, lassen uns täuschen und sind dann hinterher enttäuscht? Wie hatte Mario auf Leonie gewirkt? Was hatte sich hinter der hübschen Fassade verborgen? Leonie wollte lernen, genauer hinzuschauen. Und sie wollte lernen, ehrlicher zu sein, sich selbst und den anderen gegenüber. Sie fing sofort damit an. Hatte Leonie anfangs noch geplant, sich als Schwarzfahrerin bei der Bahn durch zu schummeln, um möglichst schnell nach Hause zu kommen, änderte sie jetzt ihren Plan. Sie wollte mit dem Bus zu Rico fahren, ihm alles erklären und ihn bitten, ihr Geld zu borgen. Für den Bus reichte ihr Geld gerade noch. Sie hatten es ihr schon mehrmals gesteckt. Jetzt las sie, „Habe T mit K gesehen, Hand in Hand. Und nun? Tanja“.
Also doch! Thomas mit Katharina. Katharina der Großen, wie Leonie sie heimlich immer nannte. Ihr Thomas, der neu in der lauten Klasse war. Den sie jeden Tag in der Schule beobachtete, der so war wie sie. Still. Unscheinbar, aber interessant. Leider nicht nur für sie interessant. Auch für Katharina. Scheiße! Die Schule war doof. Die Lehrer rissen nur die Stunden runter und hatten ihre Lieblinge. „Sieh’, das kann sogar Leonie!“ Leonie, die Versagerin. Das hatte letzte Woche gerade der Physik-Lehrer gesagt. „Das kann sogar Leonie.“ Was kann Leonie? Träumen. Zeichnen. Geschichten ausdenken. Endlos spazieren gehen. Aber Physik? Oder Jungs beeindrucken? Oder im Mittelpunkt stehen? Toll sein? Verehrt? Etwas „leisten“? Lehrerin werden, wie es ihr ihre Eltern von klein auf versucht haben einzureden? Was wollte sie überhaupt werden? Darüber dachte sie nicht nach. Sie wusste nur, bloß nicht Lehrerin. Und sie wollte Thomas, einen Freund, einen Seelenverwandten. Sie war überzeugt, dass sie und Thomas seelenverwandt seien. Oh nein, Leonie schob sich ihre braunen dünnen Haare hinter die Ohren, oh nein, Leonie kann nichts Herausragendes, nur Sachen, auf die keiner wartet. „Du bist eine Null. Ein Nichts. Es fällt nicht auf, wenn du in der Schule fehlst. Es fällt nicht auf, wenn du – überhaupt – fehlst. Du fehlst niemandem. Du fehlst niemandem!“ Der letzte Satz hallte in ihrem Kopf endlose Male in der endlosen Leere. Sie steckte das Handy in ihre Schultasche. Das verdammte Handy mit der verdammten Nachricht. Leonie machte das Schuljahr, es war ihr Elftes, noch zu Ende. In den Ferien wollten ihre Eltern mit ihr nach Italien in den Urlaub fahren. Drei Wochen in verschiedene Hotels. Aber Leonie wollte nur ihre Ruhe, zuerst jedenfalls. Sie bat ihre Eltern, ihr doch zu erlauben, alleine in der Wohnung zu bleiben. „Ich gieße die Blumen, mache ab und zu sauber, auch den Abwasch. Ich kauf´ mir was zu essen. Lasst mich doch einfach hier. Ich möchte lesen, Musik hören und mal weggehen, in einen Club oder ins Kino. Vor allem ganz viel lesen und ganz viel Ruhe.“ Aber ihre Eltern blieben dabei. Es wäre vielleicht ihr letzter gemeinsamer Urlaub, sie hätten sich so gefreut, in einem halben Jahr sei doch ihr achtzehnter Geburtstag... Ich weiß nicht, ob es gut gewesen wäre, Leonie ihren Wunsch zu erfüllen. Wahrscheinlich wäre die Leere noch leerer, ihr unglückliches Verliebtsein in Thomas noch unglücklicher geworden, wenn sie allein, drei Wochen allein geblieben wäre. Und sie hätte wohl trotzdem das gemacht, was sie dann letztendlich in Italien tat: Sie haute einfach ab. Sie machte die Biege. Leonie wusste nicht, wohin sie wollte. Sie wusste nur, dass sie wegwollte, weg von ihren Eltern, der Schule, der Kleinstadt, den richtigen und den falschen Freundinnen, weg von Thomas und Katharina. Leonie konnte sich denken, dass ihre Eltern sich Sorgen machen würden. Das war ihr aber egal. Und das war auch gut so. Immer noch besser, als sich ganz aus dem Leben fortzustehlen. An der ersten Tankstelle in Italien suchte Leonie das Weite. Sie lief, als wäre der Teufel hinter ihr her, weg, nur weg. Leonie vergaß sogar ihr Handy auf der Toilette. Ihre Eltern saßen im Imbiss neben der Tankstelle und bestellten für Leonie eine Portion Pasta und warteten auf das Essen und auf Leonie. Sie warteten etwa eine halbe Stunde, dann kam ihnen alles komisch vor und sie fingen an Leonie zu suchen. Da war Leonie aber schon lange in einem Laster unterwegs. Richtung Rom. Der Fahrer, ein breitschultriger Typ um die Vierzig, musterte sie von der Seite, ziemlich unverhohlen. Leonie starrte aus dem Fenster, rauchte eine nach der anderen und ärgerte sich, dass sie kein Italienisch konnte. So fuhren sie schweigend, Stunde um Stunde und langsam setzte die Dämmerung ein. Leonie fühlte sich immer unbehaglicher. Sie begann, an der Richtigkeit ihres Tuns zu zweifeln. Sie fing an, ihre Jeans als zu eng, ihr T-Shirt mit dem weiten Ausschnitt als provokant wahrzunehmen. Sie überlegte, ob sie vielleicht falsche Signale aussendete. Leonie spürte die Schweißperlen im Nacken und unter den Armen. Ihr Herz pochte immer aufgeregter, ihr wurde schlecht, schwindelig und irgendwann schwarz vor Augen. Als Leonie wieder zu sich kam, lag auf ihrer Stirn ein kalter nasser Lappen und sie auf einer Decke neben dem LKW auf einem Parkplatz in der Nähe der Autobahn. Man hörte es. Der Mann, der ihr solche Angst gemacht hatte, hockte neben ihr, machte ein besorgtes Gesicht und hielt ihr eine Wasserflasche hin. „Mein Gott“, dachte sie, „da habe ich wohl Gespenster gesehen“ und versuchte ein Lächeln hinzukriegen. In Mario verliebte sich Leonie vor den Toren der Stadt Rom. Auf dem Gelände einer Tankstelle, Marios Arbeitsplatz. Der Fernfahrer, übrigens Rico vom Namen, hatte sie wieder aufgepäppelt nach ihrem Ohnmachtsanfall. Liebevoll, freundschaftlich, fürsorglich. „Muss ich mir merken, dass Männer so sein können“, dachte sie noch. Mario hatte Augen, AUGEN! Solche Augen hatte sie noch nie gesehen! Einfach unbeschreiblich! Leonie tat gelassen, hängte sich mehr an die heruntergelassene Scheibe im Fahrerhaus als dass sie saß. Verdrehte die Augen und sagte etwas, das klang wie „Gelato“, „Eis“ auf Italienisch. Sie hatte unterwegs Werbung gesehen. Manchmal kann Werbung nützlich sein. Das Eis kam prompt. Und die Tankstelle verschwand. Die Frage tauchte auf, „Wo bleiben? Wo übernachten in Rom?“ Viel Geld hatte Leonie nicht bei sich. Zum Glück lud Rico sie ein, bei seiner Familie zu übernachten. Wild herumfuchtelnd und mit Hilfe eines Familienfotos aus seinem Portemonnaie hatte er sich verständlich machen können. Sie mussten noch den Container tauschen auf einer Außenstelle der Firma, bei der Rico arbeitete. Dann fuhren sie zu Ricos Wohnung. Was für eine nette Familie Rico hatte! Sie unterhielten sich alle mit Händen und Füßen. Mit viel Lachen. Das tat Leonie gut. Die Kinder kuschelten irgendwann gegen Mitternacht noch mal kurz auf „Leonies“ Couch im Wohnzimmer. Dann fiel Leonie in einen tiefen, entspannten Schlaf mit einem warmen Herzen. Jedoch, wie es so heißt: „Liebe deinen Nächsten, aber reiß´ den Zaun nicht ein“, sagte Leonie am darauffolgenden Morgen zu Rico, dass sie sich eine andere Bleibe suchen wolle. Ganz nebenbei fragte sie nach Mario. Fernfahrer und Tankstellenangestellte kennen sich oft, ist ja klar. Ob er Familie hätte. Sähe nicht so aus, als ob, und: sie würde Mario gern kennen lernen. So nahm das Unheil seinen Lauf. Herzensbrechern laufen Mädchen zu, die ganze Herzen haben. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Leonie verfiel Marios Charme. Ihr Herz war schon angeknackst zu diesem Zeitpunkt, wie ihr wisst. Das machte die Sache nicht einfacher. Leonie ließ sich von Rico die Lage von Marios Tankstelle beschreiben bzw. aufmalen in einer Landkarte. Fernfahrer besitzen Dutzende davon, auch wenn sie die Straßen alle im Kopf haben oder ein Navigationsgerät besitzen. Rico schaute sie besorgt an, fuhr mit dem Zeigefinger über einen Kalender, der in der Küche hing und deutete auf Leonie, dann auf die Möbel, die Zimmer und lachte und legte seine rechte Hand auf sein Herz. Sie verstand, sie konnte also jederzeit zurückkommen, wenn sie in Schwierigkeiten geraten sollte oder einfach so. Diese Tür stand ihr offen. Leonie ging die Treppen herunter. Auf der Straße angekommen breitete sie die Arme aus und drehte sich im Kreis. Als ihr schwindelig wurde, hörte sie auf und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Vor ihr die Straße ging geradeaus und Leonie hatte alles im Blick. Dann machte der Weg einen Knick. Was dahinter kam, war nicht zu sehen. Leonie wartete auf den Bus und dachte an alles Mögliche, nur nicht an ihre abgrundtiefe Traurigkeit. Irgendwann kam der Bus. Sie stieg ein, setzte sich und träumte während der Fahrt vor sich hin, den alten Stadtplan von Rico auf dem Schoß. Einmal zwischendurch wurde sie durch einen heftigen Ruck aus ihren Träumen gerissen. Sie konnte sich gerade noch rechtzeitig festhalten. Der Busfahrer hatte eine Vollbremsung gemacht wegen einer grauen Katze, die plötzlich die Straße überqueren wollte. Leonie sah die Katze durch einen Gartenzaun verschwinden. Sie lächelte den Busfahrer an und ahnte nicht, dass diese Katze immer so unvorsichtig war. Leonie wusste nicht, dass der Fahrer fest damit rechnete, dass die verrückte graue Katze ihn zum Bremsen zwingen würde, immer und immer wieder, wenn er diese Gegend durchfuhr. Der Busfahrer mochte die Katze. Wenn er ihr mal eine Zeit lang nicht begegnet war, fing er an sich Sorgen zu machen. Seine Frau fragte ihn dann, „Na, lange die Katze nicht gesehen?“, und er schüttelte traurig den Kopf. Zum Glück tauchte sie aber stets irgendwann wieder auf und der Busfahrer machte wie gewohnt seine Vollbremsungen. Die Leute redeten schon über ihn, einiger voller Verständnis, das waren die Leute, die Tiere lieben. Andere wiederum mit gerunzelter Stirn über soviel übertriebene Nachsicht dieser Katze gegenüber. Vor zwei Jahren hatte es sogar einen Bericht in der lokalen Tageszeitung über den Busfahrer gegeben und eine Umfrage, ob er richtig handele oder falsch. Das Ergebnis war vernichtend gewesen, den Leuten ihre eigene Sicherheit am wichtigsten. Das alles jedoch hatte den Fahrer wenig beeindruckt und wenn die Katze kam, quietschten die Bremsen. „Ha, sollen sie doch reden!“ „Außerdem sind nicht alle Menschen so. Zum Beispiel dieses Mädchen, das vorhin eingestiegen ist.“, dachte er. „Es hat mich eben angelächelt, obwohl es fast vom Sitz gefallen ist.“ So bewegte sich der Bus Richtung Stadtrand mit zwei Menschen, die nicht wussten, wie sehr sich jeweils der eine über den anderen freute. Nach beinahe einer Stunde Fahrt wurden die Straßen einsamer, die Abstände zwischen den einzelnen Wohnhäusern größer. In der Nähe musste eine stark befahrene Straße sein. Man konnte den Verkehrslärm hören, obwohl vom Bus aus kaum andere Fahrzeuge auszumachen waren. Der Bus hielt auf einem großen leeren Platz. Es gab ein Toilettenhäuschen und einen kleinen Kiosk. Davor standen ein paar Männer, tranken Kaffee und rauchten. Rechts bemerkte Leonie mehrere Busse, die Männer waren vermutlich andere Busfahrer. Leonie war am Ende ihrer Fahrt der einzige Fahrgast. Zwischendurch waren andere Leute ein- und ausgestiegen. Hierher wollte wohl selten jemand... Meine erste Begegnung mit einem Kolibri ist schon eine Weile her.
Sie fand in Idaho, USA, statt an einem warmen Sommertag. Da flog etwas. Ein unbekanntes Insekt? Farbe nicht wirklich ausmachbar, irgendwie hellbraun-grau. Ein Kolibri konnte es nicht sein, denn diese winzigen Vögelchen sind für ihr schillerndes Federkleid bekannt. Dachte ich. Es brauchte einen zweiten und dritten und vierten Blick... Um zu erkennen, da ist etwas, das zum ersten Mal in meinem Leben erscheint. Die Verzauberung geschah langsam und schnell zugleich. Inzwischen bin ich fasziniert von diesen kleinen Wundern im Federkleid, die aus einer anderen Welt kommen. So wie Seepferdchen, Libellen, Schmetterlinge und andere. Sie sind für mich Märchenwesen aus dem Tierreich. So eine Art Mischung von Elementarwesen und Tier. Da verschwimmen Grenzen zwischen grob- und feinstofflicher Welt. Eben habe ich gerade gelesen, dass der kleinste Kolibri „Bienenelfe“ genannt wird. Also bin ich wohl nicht die Einzige mit meiner Wahrnehmung... Irgendwie machen die Kolibris die Idee nachvollziehbar, dass die gesamte Natur von Elementarwesen bewohnt und beseelt ist. Und wenn ich schreibe „beseelt“, fällt mir ein, dass die englische Übersetzung von „Tier“„animal“ lautet, was sich wiederum herleitet aus dem lateinischen „anima“ ,gleichzusetzen mit „beseeltes Wesen“. So schließt sich der Kreis. Menschen, die in den Tieren und Pflanzen, überhaupt in der Natur, immer etwas „mehr“ sehen, haben also doch nicht einen Vogel. Sie sind einfach nur „feinfühlig“. Wenn ich mit unserer Hündin Amy unterwegs bin, habe ich beobachtet, dass Amy sich anderen Hunden gegenüber völlig unterschiedlich verhält.
Bei dem einem Exemplar rast sie in Kreisen umher, kugelt sich und macht alles, um ein wildes Spiel bzw. Gerenne auszulösen. Ein anderer Hund lässt sie erstarren und sie fixiert das Tier, welches dann eventuell genauso einfriert. Merkwürdige Geschichte... Möglich ist auch, dass sie sich hinsetzt. Wenn ein aufgedrehter Junghund daherkommt, ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie zu einer grauen erhabenen Eminenz mutiert. Ich habe das Gefühl, Amy kann alles sein und sie macht es instinktiv. Amy stellt sich nicht die Frage, ob ihr Verhalten gerade gerechtfertigt war oder völlig daneben. Sie schüttelt Geschehenes ab, wie Hunde das nun einmal so tun, und ihre Erde dreht sich weiter. Eigentlich heißt es, es gäbe Leithunde und Mitarbeiterhunde. Bei den Mitarbeitern vorwärtsdenkende und rückwärtsdenkende. Die einen kümmern sie um das, was gerade auf das Rudel zukommt, die anderen achten auf potentielle Gefahren hinterrücks. Einfach ausgedrückt: die Vorwärtsdenkenden neigen dazu, nach vorne zu stürmen und die Rückwärtsdenkenden „trödeln“. Grundsätzlich kann man die Tiere auch in introvertiert und extrovertiert einteilen. Insights Discovery für Hunde sozusagen... Die Sängerin und Hundetrainerin Maike Maya Nowak meint zusätzlich noch, es gäbe zwei Sorten von Hunden: die einen würden ihren Menschen tragen und die anderen ihn herausfordern. Das ist alles höchst interessant, aber... Long story short: Auf Amy trifft ALLES zu. Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten, ob ich ein Leitwolf bin, kann ich nur feststellen: es gab und gibt Situationen, da kann ich das sein. Aber meistens bin ich es eher nicht. Überhaupt nicht. Doch die Frage finde ich grundsätzlich bedeutsam. Wir können viele verschiedene Rollen und Positionen einnehmen. Sich das bewusst zu machen, schenkt eine gewisse Freiheit. Eine Freiheit, die sich unsere Amy jeden Tag selbst nimmt. Eine Freiheit, die wir uns auch selbst schenken dürfen... |
Inés Witt
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