Sie hatten es ihr schon mehrmals gesteckt. Jetzt las sie, „Habe T mit K gesehen, Hand in Hand. Und nun? Tanja“.
Also doch! Thomas mit Katharina. Katharina der Großen, wie Leonie sie heimlich immer nannte. Ihr Thomas, der neu in der lauten Klasse war. Den sie jeden Tag in der Schule beobachtete, der so war wie sie. Still. Unscheinbar, aber interessant. Leider nicht nur für sie interessant. Auch für Katharina. Scheiße! Die Schule war doof. Die Lehrer rissen nur die Stunden runter und hatten ihre Lieblinge. „Sieh’, das kann sogar Leonie!“ Leonie, die Versagerin. Das hatte letzte Woche gerade der Physik-Lehrer gesagt. „Das kann sogar Leonie.“ Was kann Leonie? Träumen. Zeichnen. Geschichten ausdenken. Endlos spazieren gehen. Aber Physik? Oder Jungs beeindrucken? Oder im Mittelpunkt stehen? Toll sein? Verehrt? Etwas „leisten“? Lehrerin werden, wie es ihr ihre Eltern von klein auf versucht haben einzureden? Was wollte sie überhaupt werden? Darüber dachte sie nicht nach. Sie wusste nur, bloß nicht Lehrerin. Und sie wollte Thomas, einen Freund, einen Seelenverwandten. Sie war überzeugt, dass sie und Thomas seelenverwandt seien. Oh nein, Leonie schob sich ihre braunen dünnen Haare hinter die Ohren, oh nein, Leonie kann nichts Herausragendes, nur Sachen, auf die keiner wartet. „Du bist eine Null. Ein Nichts. Es fällt nicht auf, wenn du in der Schule fehlst. Es fällt nicht auf, wenn du – überhaupt – fehlst. Du fehlst niemandem. Du fehlst niemandem!“ Der letzte Satz hallte in ihrem Kopf endlose Male in der endlosen Leere. Sie steckte das Handy in ihre Schultasche. Das verdammte Handy mit der verdammten Nachricht. Leonie machte das Schuljahr, es war ihr Elftes, noch zu Ende. In den Ferien wollten ihre Eltern mit ihr nach Italien in den Urlaub fahren. Drei Wochen in verschiedene Hotels. Aber Leonie wollte nur ihre Ruhe, zuerst jedenfalls. Sie bat ihre Eltern, ihr doch zu erlauben, alleine in der Wohnung zu bleiben. „Ich gieße die Blumen, mache ab und zu sauber, auch den Abwasch. Ich kauf´ mir was zu essen. Lasst mich doch einfach hier. Ich möchte lesen, Musik hören und mal weggehen, in einen Club oder ins Kino. Vor allem ganz viel lesen und ganz viel Ruhe.“ Aber ihre Eltern blieben dabei. Es wäre vielleicht ihr letzter gemeinsamer Urlaub, sie hätten sich so gefreut, in einem halben Jahr sei doch ihr achtzehnter Geburtstag... Ich weiß nicht, ob es gut gewesen wäre, Leonie ihren Wunsch zu erfüllen. Wahrscheinlich wäre die Leere noch leerer, ihr unglückliches Verliebtsein in Thomas noch unglücklicher geworden, wenn sie allein, drei Wochen allein geblieben wäre. Und sie hätte wohl trotzdem das gemacht, was sie dann letztendlich in Italien tat: Sie haute einfach ab. Sie machte die Biege. Leonie wusste nicht, wohin sie wollte. Sie wusste nur, dass sie wegwollte, weg von ihren Eltern, der Schule, der Kleinstadt, den richtigen und den falschen Freundinnen, weg von Thomas und Katharina. Leonie konnte sich denken, dass ihre Eltern sich Sorgen machen würden. Das war ihr aber egal. Und das war auch gut so. Immer noch besser, als sich ganz aus dem Leben fortzustehlen. An der ersten Tankstelle in Italien suchte Leonie das Weite. Sie lief, als wäre der Teufel hinter ihr her, weg, nur weg. Leonie vergaß sogar ihr Handy auf der Toilette. Ihre Eltern saßen im Imbiss neben der Tankstelle und bestellten für Leonie eine Portion Pasta und warteten auf das Essen und auf Leonie. Sie warteten etwa eine halbe Stunde, dann kam ihnen alles komisch vor und sie fingen an Leonie zu suchen. Da war Leonie aber schon lange in einem Laster unterwegs. Richtung Rom. Der Fahrer, ein breitschultriger Typ um die Vierzig, musterte sie von der Seite, ziemlich unverhohlen. Leonie starrte aus dem Fenster, rauchte eine nach der anderen und ärgerte sich, dass sie kein Italienisch konnte. So fuhren sie schweigend, Stunde um Stunde und langsam setzte die Dämmerung ein. Leonie fühlte sich immer unbehaglicher. Sie begann, an der Richtigkeit ihres Tuns zu zweifeln. Sie fing an, ihre Jeans als zu eng, ihr T-Shirt mit dem weiten Ausschnitt als provokant wahrzunehmen. Sie überlegte, ob sie vielleicht falsche Signale aussendete. Leonie spürte die Schweißperlen im Nacken und unter den Armen. Ihr Herz pochte immer aufgeregter, ihr wurde schlecht, schwindelig und irgendwann schwarz vor Augen. Als Leonie wieder zu sich kam, lag auf ihrer Stirn ein kalter nasser Lappen und sie auf einer Decke neben dem LKW auf einem Parkplatz in der Nähe der Autobahn. Man hörte es. Der Mann, der ihr solche Angst gemacht hatte, hockte neben ihr, machte ein besorgtes Gesicht und hielt ihr eine Wasserflasche hin. „Mein Gott“, dachte sie, „da habe ich wohl Gespenster gesehen“ und versuchte ein Lächeln hinzukriegen. In Mario verliebte sich Leonie vor den Toren der Stadt Rom. Auf dem Gelände einer Tankstelle, Marios Arbeitsplatz. Der Fernfahrer, übrigens Rico vom Namen, hatte sie wieder aufgepäppelt nach ihrem Ohnmachtsanfall. Liebevoll, freundschaftlich, fürsorglich. „Muss ich mir merken, dass Männer so sein können“, dachte sie noch. Mario hatte Augen, AUGEN! Solche Augen hatte sie noch nie gesehen! Einfach unbeschreiblich! Leonie tat gelassen, hängte sich mehr an die heruntergelassene Scheibe im Fahrerhaus als dass sie saß. Verdrehte die Augen und sagte etwas, das klang wie „Gelato“, „Eis“ auf Italienisch. Sie hatte unterwegs Werbung gesehen. Manchmal kann Werbung nützlich sein. Das Eis kam prompt. Und die Tankstelle verschwand. Die Frage tauchte auf, „Wo bleiben? Wo übernachten in Rom?“ Viel Geld hatte Leonie nicht bei sich. Zum Glück lud Rico sie ein, bei seiner Familie zu übernachten. Wild herumfuchtelnd und mit Hilfe eines Familienfotos aus seinem Portemonnaie hatte er sich verständlich machen können. Sie mussten noch den Container tauschen auf einer Außenstelle der Firma, bei der Rico arbeitete. Dann fuhren sie zu Ricos Wohnung. Was für eine nette Familie Rico hatte! Sie unterhielten sich alle mit Händen und Füßen. Mit viel Lachen. Das tat Leonie gut. Die Kinder kuschelten irgendwann gegen Mitternacht noch mal kurz auf „Leonies“ Couch im Wohnzimmer. Dann fiel Leonie in einen tiefen, entspannten Schlaf mit einem warmen Herzen. Jedoch, wie es so heißt: „Liebe deinen Nächsten, aber reiß´ den Zaun nicht ein“, sagte Leonie am darauffolgenden Morgen zu Rico, dass sie sich eine andere Bleibe suchen wolle. Ganz nebenbei fragte sie nach Mario. Fernfahrer und Tankstellenangestellte kennen sich oft, ist ja klar. Ob er Familie hätte. Sähe nicht so aus, als ob, und: sie würde Mario gern kennen lernen. So nahm das Unheil seinen Lauf. Herzensbrechern laufen Mädchen zu, die ganze Herzen haben. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Leonie verfiel Marios Charme. Ihr Herz war schon angeknackst zu diesem Zeitpunkt, wie ihr wisst. Das machte die Sache nicht einfacher. Leonie ließ sich von Rico die Lage von Marios Tankstelle beschreiben bzw. aufmalen in einer Landkarte. Fernfahrer besitzen Dutzende davon, auch wenn sie die Straßen alle im Kopf haben oder ein Navigationsgerät besitzen. Rico schaute sie besorgt an, fuhr mit dem Zeigefinger über einen Kalender, der in der Küche hing und deutete auf Leonie, dann auf die Möbel, die Zimmer und lachte und legte seine rechte Hand auf sein Herz. Sie verstand, sie konnte also jederzeit zurückkommen, wenn sie in Schwierigkeiten geraten sollte oder einfach so. Diese Tür stand ihr offen. Leonie ging die Treppen herunter. Auf der Straße angekommen breitete sie die Arme aus und drehte sich im Kreis. Als ihr schwindelig wurde, hörte sie auf und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Vor ihr die Straße ging geradeaus und Leonie hatte alles im Blick. Dann machte der Weg einen Knick. Was dahinter kam, war nicht zu sehen. Leonie wartete auf den Bus und dachte an alles Mögliche, nur nicht an ihre abgrundtiefe Traurigkeit. Irgendwann kam der Bus. Sie stieg ein, setzte sich und träumte während der Fahrt vor sich hin, den alten Stadtplan von Rico auf dem Schoß. Einmal zwischendurch wurde sie durch einen heftigen Ruck aus ihren Träumen gerissen. Sie konnte sich gerade noch rechtzeitig festhalten. Der Busfahrer hatte eine Vollbremsung gemacht wegen einer grauen Katze, die plötzlich die Straße überqueren wollte. Leonie sah die Katze durch einen Gartenzaun verschwinden. Sie lächelte den Busfahrer an und ahnte nicht, dass diese Katze immer so unvorsichtig war. Leonie wusste nicht, dass der Fahrer fest damit rechnete, dass die verrückte graue Katze ihn zum Bremsen zwingen würde, immer und immer wieder, wenn er diese Gegend durchfuhr. Der Busfahrer mochte die Katze. Wenn er ihr mal eine Zeit lang nicht begegnet war, fing er an sich Sorgen zu machen. Seine Frau fragte ihn dann, „Na, lange die Katze nicht gesehen?“, und er schüttelte traurig den Kopf. Zum Glück tauchte sie aber stets irgendwann wieder auf und der Busfahrer machte wie gewohnt seine Vollbremsungen. Die Leute redeten schon über ihn, einiger voller Verständnis, das waren die Leute, die Tiere lieben. Andere wiederum mit gerunzelter Stirn über soviel übertriebene Nachsicht dieser Katze gegenüber. Vor zwei Jahren hatte es sogar einen Bericht in der lokalen Tageszeitung über den Busfahrer gegeben und eine Umfrage, ob er richtig handele oder falsch. Das Ergebnis war vernichtend gewesen, den Leuten ihre eigene Sicherheit am wichtigsten. Das alles jedoch hatte den Fahrer wenig beeindruckt und wenn die Katze kam, quietschten die Bremsen. „Ha, sollen sie doch reden!“ „Außerdem sind nicht alle Menschen so. Zum Beispiel dieses Mädchen, das vorhin eingestiegen ist.“, dachte er. „Es hat mich eben angelächelt, obwohl es fast vom Sitz gefallen ist.“ So bewegte sich der Bus Richtung Stadtrand mit zwei Menschen, die nicht wussten, wie sehr sich jeweils der eine über den anderen freute. Nach beinahe einer Stunde Fahrt wurden die Straßen einsamer, die Abstände zwischen den einzelnen Wohnhäusern größer. In der Nähe musste eine stark befahrene Straße sein. Man konnte den Verkehrslärm hören, obwohl vom Bus aus kaum andere Fahrzeuge auszumachen waren. Der Bus hielt auf einem großen leeren Platz. Es gab ein Toilettenhäuschen und einen kleinen Kiosk. Davor standen ein paar Männer, tranken Kaffee und rauchten. Rechts bemerkte Leonie mehrere Busse, die Männer waren vermutlich andere Busfahrer. Leonie war am Ende ihrer Fahrt der einzige Fahrgast. Zwischendurch waren andere Leute ein- und ausgestiegen. Hierher wollte wohl selten jemand... Comments are closed.
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Inés Witt
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