Man erzählt sich hier in der Gegend eine Geschichte. Wahrscheinlich ist nicht einmal die Hälfte davon wahr...
Mitten in einem nahe gelegenen Wald gab es einen Baum, der schon unzählige Stürme überlebt hatte und alt und knorrig war. Viele Äste hatte er im Laufe seines Daseins verloren. Immer dort, wo ein Ast abgebrochen war, grub sich in seine Rinde etwas ein wie eine Signatur, so, als hätte der Baum unzählige Augen. Daher sein Name: Der Vielaugenbaum. Die Menschen sagten, dass dieser Baum mit den vielen Augen alles sehen kann und auch die Fähigkeit besitzt, den Menschen in die Seele zu schauen. Die Leute waren der Meinung, dass dieser Baum Antworten auf alle Fragen geben kann; man braucht sich nur an ihn zu lehnen, schon erhält man eine Eingebung. So wurde der Vielaugenbaum berühmt und mit ihm auch der Wald, in dem er beheimatet war: Der Vielaugenwald. Hoch oben in diesem besonderen Baum lebte ein Vögelchen. Dieses Vögelchen war ein Seelenverwandter des Baumes. Der Baum lebte, weil dort dieses Vögelchen sang und brütete. Das Vögelchen war stark und fröhlich, weil der Baum ihm Schutz schenkte über das ganze Jahr. Das Vögelchen hatte ein bedeutsames Gefieder. Jedes Mal wenn ihm ein Traum abhanden gekommen war, entstand im Federkleid ein ovaler Fleck. So hatte sich das Vögelchen in ein Vielaugenvögelchen verwandelt. Eines Tages kam ein Vogelkundler in den Wald, diesem fiel das Vielaugenvögelchen auf. Er beobachtete es lange und baute ihm eine Falle. Ein schönes Nest mit leckersten Früchten befand sich auf dem Waldboden. Das Vögelchen hatte gerade acht Junge, deshalb war es selbst sehr hungrig und hatte viel zu tun, die Kleinen satt zu bekommen. Der Mann hatte Erfolg. Er brachte seinen Fang in ein ornithologisches Forschungszentrum in der Nähe von Lübeck. Dort war die Begeisterung groß. Er wurde über alle Maßen gelobt, auf Kongresse eingeladen und es wird gemunkelt, dass viel Geld geflossen sei... Nun wären die kleinen jungen Vögelchen verloren gewesen, denn der Vogelpapa war weiter gezogen und erfuhr nichts von dieser Tragödie. Zum Glück jedoch hatte die Mama den Kleinen einen Zaubergesang beigebracht. Diesen Gesang hörten die anderen Vögel im Wald und weil der Gesang so sehr ihre Herzen berührte, fütterten sie die kleinen Sänger. Die Kleinen wuchsen heran, wurden bald flügge und sprangen und sangen im Geäst des Vielaugenbaumes. So wurde aus dem Vielaugenbaum auch noch obendrein ein klingender und singender Baum. Die Vogelmama indes saß in einem Käfig und sang ganz leise ihr Lied. Niemand konnte es hören. Nur sie selbst spürte und fühlte in ihren kleinen Körper hinein und so war ihr gewiss, dass ihre Kinder lebten. Das schenkte ihr die Kraft, sich nicht aufzugeben und auf ein Wunder zu hoffen. Eines Tages kam eine neue Angestellte zu der Vogelmama. Sie sollte den Käfig säubern und das Futter auffüllen. „Was für ein schöner Vogel“, dachte sie. Sie bestaunte das Gefieder der Vogelmama und die Augen in den Federn verschmolzen mit den realen Augen, so dass der jungen Frau ganz schwindelig wurde. Lilly, so hieß die Mitarbeiterin, öffnete den Käfig und setzte sich auf einen Stuhl. Alles um sie herum drehte sich. Die Vogelmama sprang Lilly auf die Schultern und sang ein kleines Lied einmal in das linke und einmal in das rechte Ohr. Sie verwuschelte ihr die Frisur, pickte am Scheitel neun Mal. Zu guter Letzt setzte sich das Vögelchen auf die Brust der freundlichen Frau und legte ihr Köpfchen an, so dass sich ihre Seelen verbanden. Lilly wurde ganz warm ums Herz und auf ihrem Kopf kribbelte es angenehm. Ohne nachzudenken machte sie einfach ebenso das Fenster weit auf mit den Worten: „Flieg, du schönes Vögelchen! Es ist Frühling und draußen ist Freiheit.“ Als das Ganze herauskam, wurde Lilly gekündigt. Fristlos. Ihre Freunde und Bekannten wunderten sich, dass sie trotzdem wundervoll von Innen strahlte. Das ist dann aber eine andere Geschichte.... Die Vogelmama schwang sich hoch in die Lüfte, flog und flog, bis sie eines Tages den Wald mit dem Vielaugenbaum erreichte. Die Freude war unbeschreiblich, als sie einander in die Flügel schlossen. Alle acht Kinder hatten überlebt und mit der Mama gab es jetzt neun Vögelchen mit einem unvergleichlichen Federkleid im Vielaugenwald. Das spezielle Gefieder hatten die Jungen von ihrer Mutter geerbt. Ich war neulich in diesem Wald und dort stehen in der Tat mehrere „Vielaugenbäume“, aber um welchen es in der Erzählung geht, konnte ich nicht mit Sicherheit ausmachen. Jedoch selbst wenn ich Gewissheit erlange, wird es mein Geheimnis bleiben. Es gibt Dinge, die sind nicht zum Wissen, die sind mehr zum Fühlen da... „Leb so, dass, wenn du strauchelst, Engelhand
dich führen mag zum Ziel, das dir entschwand.“ Hafis Der Winter ist die Nacht des Jahres. Wenn wir Silvester und Neujahr etwas beiseite lassen, drehen wir uns metaphorisch gesehen im Januar noch einmal in unserem Bett um. Nachdem wir uns getreckt haben, fallen wir sanft in den letzten Traum vor Tagesanbruch. So langsam spüren wir, der Tag fängt an da zu sein. Viele Menschen haben sich für das neue Jahr etwas vorgenommen. Bestimmt ist das sinnvoll. Ich bin hingegen in einer anderen Energie, da ist noch Nacht in meinen Gliedern; vielleicht war ich in einem vorherigen Leben ein Bär und habe das Gefühl, dass die Zeit gekommen ist für einen Winterschlaf. Apropos Winterschlaf: Wie wäre es, die Dinge ruhiger anzugehen? Wie wäre es, weniger streng mit sich zu sein? Wie wäre es, sich mehr auf das Spielerische, das noch einmal Umdrehen, das noch einmal Träumen zu fokussieren? Wie wäre es, das Herz zu öffnen und sich nicht zu sehr an Endresultaten festzuhalten? So wie die Blumenzwiebeln in der Erde ruhen, sich die Zeit geben, die es braucht und abwarten, bis die wärmenden Strahlen der Sonne ihr Aufblühen unterstützen und ermöglichen. Öffne die Fenster, lass den Januar herein, der schon ein bisschen Februar ist und in dessen Aura bereits ein Hauch Frühling schwebt... Eine dicke Laubschicht bedeckt den Waldboden.
Wir stapfen querfeldein zwischen abgesägten Bäumen, herumliegenden Zweigen, springen über Gräben. Nein, nein, kein Schnee. Noch nicht. Es regnet und die Sonne ist gerade untergegangen. Wir sind etwas spät dran. Amy läuft an der langen Leine; so wird verhindert, dass sie jagen geht. In der Dämmerung sehe ich Wild verschwinden. Fünf Rehe zähle ich. Schritt für Schritt rascheln wir uns voran. Was sich unter dem Laub verbirgt, ist nicht zu sehen. Man muss schon aufpassen, zumal es immer dunkler wird an diesem ohnehin wolkenverhangenen Tag. Es geht sich von alleine. Traumwandlerisch finden wir unseren Weg. Schweigend. Selbstverständlich. Ohne Bedacht würden wir vielleicht straucheln und uns verletzen. Mit viel Angst kämen wir nicht vom Fleck, unsere Hündin würde vielleicht ihre Geduld verlieren. „Wie eine Meditation - das Ganze“, denke ich. Wir haben unseren Rhythmus gefunden. Es ist schon faszinierend, was das Leben langfristig mit uns Menschen macht, bzw. was wir mit uns machen lassen.
Zwischen den Jahren, wie man so sagt, war ich bei einem Klassentreffen. Wenn ich darüber berichte, werde ich darauf achten, dass ich niemanden bloßstelle, auch wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass es keiner aus der Klasse lesen wird. Meine Erfahrung war Folgende: Diejenigen, denen ich mich sehr nahe wähnte, verschwanden in der Masse. Und im Gegenzug rückte die „Masse“ in mein Herz. Meine beste Freundin von damals interessierte sich nicht sonderlich für mich, ebenso mein bester Freund. Letztendlich saß ich daneben und die beiden unterhielten sich bestens. Mir wurde klar, dass ich nicht mehr dazu gehörte. Das ist heftig, wenn du merkst, du bist raus. Das Geschenk offenbarte sich augenblicklich. Ich schaute in viele lachende und freundliche Gesichter. Die Fotos, die ich machte, waren unterbelichtet. Einfach zu dunkel. Und genauso hatte ich möglicherweise meine Klassenkameraden bisher nicht wirklich angesehen. Nun drehte sich an diesem Abend das Karussell und die Mannschaft wurde ausgewechselt. Zuerst tat es sehr weh und machte mich betroffen. Aber dann merkte ich, jetzt, wo ich raus bin, kann ich die „Anderen“ besser wahrnehmen: Menschen, die reifer werden und weiser als Reisebegleiter aus der Ferne. Wie schön, dass wir uns immer wieder in gewissen Abständen begegnen! Wie schön, dass es euch gibt! Ob ich wohl die Einzige bin, der es so geht? Machen uns die Jahre zu anderen Menschen? Öffnet die Zeit uns die Augen? Oder ist meine veränderte Wahrnehmung einfach vorprogrammiert gewesen, weil das einzig Beständige die Wandlung ist? Spielt Desillusionierung eine Rolle dabei? Was ist real und was geschieht ausschließlich nur in meiner Phantasie? Wer weiß? Jetzt bin ich ein wenig gescheitert und gescheiter, wobei auch das nicht die vollkommene Wahrheit ist. Es wird wieder in einigen Jahren ein Klassentreffen geben und ich kann dann aus meinem veränderten Blickwinkel den Vogelschwarm bestaunen, der sich für kurze Zeit in einer Gaststätte niederlässt um sich im Anschluss in alle Windrichtungen zu zerstreuen... Die Reise geht weiter. |
Inés Witt
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