Mit einem lauten Zischen kam der Bus zum Stehen. Leonie erhob sich langsam und stieg hinten aus, zögerte. Nachdem sie sich ein Herz gefasst hatte, ging sie wieder nach vorn und stieg erneut ein. Sie zeigte dem Fahrer die Karte und deutete auf das Kreuz, das Rico eingezeichnet hatte. Leonie bewegte ihre Finger, als spazierten sie irgendwo hin und hob die Schultern. Als der Fahrer sie fragend ansah, sagte sie nur ein Wort: “Mario“.
Die Art und Weise, wie sie diesen Namen aussprach, ließ den Fahrer schmunzeln. Er zog seine Augenbrauen fragend hoch und wartete ab. Daraufhin machte Leonie eine recht annehmbare Pantomime-Vorstellung, beinhaltend die Begriffe „Tankstelle“, „junger Mann“ und „unbedingt wiedersehen“. Der Busfahrer winkte seinen Kollegen und rief ihnen etwas zu, was Leonie nicht verstand. Dann fuhr er los zu Leonies Ziel, er chauffierte sie direkt vor die Eingangstür des Tankstellenshops. Eine galante Geste, ein herzliches Lachen und fort war er. Leonie freute sich riesig, als sie sah, dass Mario tatsächlich da war, nicht frei hatte, Urlaub oder sonst etwas. He, was für ein Glück! Himmel, endlich hatte sie auch mal richtiges Glück. Betonung liegt auf „richtiges“, also nicht nur ein bisschen, nein, das war der Hammer! Und himmlisch war auch, wie Mario auf Leonies Auftauchen reagierte. Alles, was sie sich erträumt und gewünscht hatte, wurde wahr. Sie hatte sich auf den ersten Blick in Mario verliebt und wie es schien, echote es genauso euphorisch zurück. Nun, das änderte sich allerdings recht schnell. Jeden Tag starb ein Stück ihrer Fröhlichkeit, ihrer Verliebtheit. Ich glaube, etwa eine Woche nach ihrer zweiten Begegnung begann ihre Beziehung bzw. Freundschaft problematisch zu werden. Oder besser gesagt: Nach einer Woche Zusammensein mit Mario fing Leonie an zu ahnen, was für ein Mensch hinter diesem so schönen, ebenmäßigen Gesicht stand. Nicht nur ein liebenswerter, charmanter junger Mann, sondern auch ein Mann mit Eigenschaften, die nicht so sympathisch sind. Ich habe mal den Spruch gehört: „Schönheit verdirbt den Charakter.“ So ähnlich muss es bei Mario gewesen sein. Auf alle Fälle bildete er sich eine ganze Menge wegen seines angenehmen Äußeren ein. Er fand sich schlichtweg toll. Und die Mädchen oder Frauen, denen er seine Aufmerksamkeit schenkte, sollten sich glücklich schätzen. Mario konnte sehr nett sein, wenn er das sein wollte. Er war oft humorvoll, tolerant und hilfsbereit. Eigentlich ein netter Kerl. Aber er konnte auch faul sein, unangenehme Dinge an andere weiterdelegieren, mürrisch sein, sich langweilen und hinter den Frauen her sein. Man kann einen Menschen halt immer nur im Set bekommen entweder mit allen Macken oder gar nicht. Jeder hat welche. Macken. Leonie auch. Aber dagegen war Mario ein derber Brocken. Ich kann und will nicht alles detailliert aufschreiben, was zwischen den beiden vorgefallen ist. Irgendwie geht das niemanden etwas an. Deshalb hier die Kurzfassung mit ein paar Sachverhalten gespickt, die meiner Meinung nach das Ganze etwas verständlicher machen, als es sonst wäre: Vor genau zwei Jahren hatte Marios Mutter seine Wohnung aufgeräumt und alles blitzeblank geputzt. Sie ist halt eine ordnungsliebende Person. Hatte damals das Chaos nicht länger mit ansehen können. Mario, im Stillen höchsterfreut wegen der erledigten Sisyphos-Arbeit, hatte es nicht zugeben wollen, dass es ja längst dran gewesen und für ihn okay war. Er machte einen Riesenaufstand deswegen und schrie: „Tu das nie wieder!“ Sein Stolz hatte ihm gesagt, „Bloß nichts zugeben!“ Junge Männer sind manchmal so. Nun, das Ganze fand jetzt in einer veränderten Version statt, nachdem Leonie anfing sich bei Mario wie zu Hause zu fühlen: Sie räumte seine Wohnung auf. Sie räumte sein Leben auf. Und er wusste nicht, ob er das gut oder schlecht finden sollte. Vielleicht wollte er ja doch keine Ordnung. Ich weiß es nicht.. Mario ging immer mehr mit seinen Freunden weg. Leonie las, sah fern, träumte, dachte nach, naja und sie erledigte den ganzen Alltagskram. An einem Abend, mal wieder alleine, machte sie einen Spaziergang. In der Ferne bellten Hunde. Der Mond war voll, ein zarter Hof umhüllte ihn. Die Dämmerung wartete auf die kühle Nacht. Am Horizont duckten sich hoffnungsvoll langgezogene Wolken. Es war so ein Moment, wie wir alle ihn kennen: Du merkst, du bist vollkommen allein mit dir. Da müssen wir alle durch. Es hat etwas Beruhigendes und auch etwas Beängstigendes: Wir sind alle einsame Herzen und können vieles mit niemandem teilen. Andererseits sind wir frei, egal, in welchen Beziehungen wir leben. Wir sind für uns selbst verantwortlich, spätestens, wenn wir unser Elternhaus verlassen oder verloren haben. Also, ich denke, man kann eine Menge daraus machen. Mario und Leonie begannen, sich aus dem Weg zu gehen. Eines Nachmittags, Leonie hing im Garten hinter dem Haus Wäsche auf, konnte sie über dem nahen Feld zwei Greifvögel beobachten. Sie umkreisten sich, die Thermik nutzend, flogen immer höher – mühelos, wie es schien. Die Kreise waren mal groß, mal kleiner. Ihre Bahnen kreuzten sich immer wieder. Jeder Vogel auf seinem Weg hatte den anderen doch nah bei sich. „Mein Gott, neben Mario könntest du nie so deine Flügel ausbreiten“, dachte Leonie. Nein, nicht so frei und genauso wenig geborgen fühlte sie sich an der Seite von Mario. Der Wind wehte ihre Haare durcheinander, ließ die Wäsche flattern. Im Gegensatz zur weißen Wäsche waren ihre Arme braun. So braun war sie nie vorher gewesen. Seit Wochen hatten sie warmes sonniges Wetter. Im Bad war ihr vorhin aufgefallen, wie sehr ihre Haare gewachsen und ausgeblichen waren. Durch die Liebe, die Luft und die Sonne war Leonie schön geworden. Oder sie merkte jetzt endlich, dass sie es war: schön. Schade, dass die Liebe jetzt ging. Energisch verließ sie den Wäscheplatz. Einmal drehte sie sich noch um, betrachtete das Kreisen der Greifvögel, dann wusste sie, dass sie Mario verlassen wollte, musste – wie man’s nimmt. Jedenfalls wollte sie auf einmal nach Hause, zu ihren Eltern, den falschen und den richtigen Freunden. Dort würde sie ihr eigenes Leben anpacken, mit ihren Eltern reden, ihre Vorstellungen durchsetzen. Sie wusste noch nicht genau, was sie im Einzelnen vorhatte nach ihrer Rückkehr. Das wird ihr schon früh genug einfallen. Sie fühlte sich stark und wusste jetzt, neben Mario weiter her leben, seine Wohnung aufräumen, sich hier verkriechen, das wollte sie nicht länger. Leonie wurde ihr Unterschlupf langsam zu eng. Und zu einsam. Sie fing an, ihre Sachen zu packen. Es ist ganz einfach, fortzugehen. Ganz einfach, jemanden zu verlassen. Die Schwere, die Unsicherheit und andere unangenehme Gefühle holen einen meistens erst später ein. Dann, wenn man nicht mehr umkehren kann. Bei Leonie war es anders. Sie wusste, dass die Schwere nicht kommen würde. Zumindest nicht in diesem Sommer. Windstill hingen die Blätter an den Bäumen. Leonies letzte Station vom schönen Land Italien war nicht der Vorort von Rom, in dem Mario wohnte. Leonie schaute sich diese tolle Stadt selbst an: Rom. Als sie sich in ein Straßencafé gesetzt hatte, dachte sie darüber nach, wie sie zurück nach Deutschland kommen kann. Das Gebäude, in dem sich das Café befand, hatte eine runde Glasfront. Sie saß dort und beobachtete, wie verzerrt sich die Passanten in diesen runden Fenstern spiegelten. Lauter Gespenster. Irgendwann erkannte sie sich selbst in den verfälschten Spiegelbildern wieder. Und sie beschloss, sich fortan nicht mehr selbst zu verzerren bzw. sich nicht weiter verzerren zu lassen. Bitte nur noch gerade Spiegel! Der Himmel war grau in grau, die Luft drückend und schwül. Leonie wollte nur noch nach Hause. Sie begriff in diesem Moment die Bedeutung des Wortes „zuhause“. „Heimat ist da, wo ich verstanden werde und verstehe“ hat der Philosoph Karl Jaspers mal geschrieben. Leonie hatte sich vor ihrem Fortlaufen oft nicht heimisch gefühlt in ihrer Heimatstadt, ihrem Elternhaus und Freundes- und Bekanntenkreis. Aber lag das nicht auch an ihr selbst? Sah sie vieles, einschließlich sich selbst, mitunter durch mental verzerrte Brillengläser? Mein Gott, wie oft werden wir getäuscht, lassen uns täuschen und sind dann hinterher enttäuscht? Wie hatte Mario auf Leonie gewirkt? Was hatte sich hinter der hübschen Fassade verborgen? Leonie wollte lernen, genauer hinzuschauen. Und sie wollte lernen, ehrlicher zu sein, sich selbst und den anderen gegenüber. Sie fing sofort damit an. Hatte Leonie anfangs noch geplant, sich als Schwarzfahrerin bei der Bahn durch zu schummeln, um möglichst schnell nach Hause zu kommen, änderte sie jetzt ihren Plan. Sie wollte mit dem Bus zu Rico fahren, ihm alles erklären und ihn bitten, ihr Geld zu borgen. Für den Bus reichte ihr Geld gerade noch. Comments are closed.
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Inés Witt
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