Die Annäherung zwischen Robert und Rosi hatte völlig unspektakulär stattgefunden. Ganz ohne Berechnung.
Rosi war einfach dagewesen, als Robert sich schlecht gefühlt hatte. Sie war keinen Schritt auf ihn zugegangen. Sie hatte nichts gewollt. Sie hatte so sehr und so lange nichts gewollt, bis Robert angefangen hatte davon zu träumen, wie entspannt es doch mit Rosi sein würde. Das Zusammenleben. Das Füreinanderdasein. Und überhaupt: auch im Bett würde es ausnehmend entspannt zugehen. Robert hatte ausprobiert, wie es mit Rosi im Bett war. Es war wie Ankommen gewesen, endlich Ankommen. Wie Baden in warmem Wasser. Nun gab es kein Zurück. Langsam begriff er, dass er mit der falschen Frau verheiratet war. Robert musste immer wieder an den Anfang seiner Beziehung zu Marlene denken. „Sie hat dich gepflückt wie eine reife Pflaume“, ging ihm durch den Kopf. „Und du, Robert, hast dich pflücken lassen.“ Weihnachten dieses Jahr war schlimm für Robert. Marlene fegte durch die Wohnung wie ein Wirbelsturm. Deko hier und Deko da. Einkaufen, kochen, backen. Ach ja und die Katzen. Der spezielle Musikgeschmack der Katzen lehnte Weihnachtslieder ab. Weihnachtsmusik hatte allem Anschein nach Schwingungen, die den Katzen missfielen. Als es am zweiten Weihnachtstag anfing zu schneien, brach es aus Robert heraus: „Ich liebe dich nicht mehr, Marlene. Ich habe mich in Rosi verliebt. Es ist ganz anders mit ihr. Besser. Viel besser. Ich lasse mich von dir scheiden. Sei mit bitte nicht böse! Du hast ja auch einen Freund, mit dem du dich bestens verstehst!“ Marlene riss es den Boden unter den Füßen weg. Den Boden, die Sicherheit, die Gegenwart, die Zukunft, die Geborgenheit und – fatalerweise auch den Glauben an sich selbst. Es wurde dunkel um Marlene. Ihr Herz tat weh, mit dem linken Arm stimmte auch etwas nicht. Am Neujahrstag erlitt Marlene im Alter von neunundzwanzig Jahren einen Herzinfarkt. Da war Robert schon bei Rosi. Marlene lag etwa drei Wochen auf der kardiologischen Wacheinheit. Knapp am Tod vorbeigeschrammt. Ihr Zustand besserte sich langsamer als von den Ärzten angenommen worden war. Danach fuhr Marlene zur Reha. Wie ein Fels in der Brandung stand Alexander Marlene zur Seite. Dass er die Katzen zu sich nahm – eine Selbstverständlichkeit. Alexander hielt Marlene auf dem Laufenden, was Ares, Melpomene, Mauz und Mauzi anging. Und was das Leben anging. Alexander regelte die gesamte Korrespondenz für Marlene. Im Grunde ließ er sich von Robert scheiden. Im Grunde lösten Alexander und Robert den Haushalt auf . Die beiden Männer regelten alles Finanzielle. Es gab keine Animositäten zwischen ihnen. Warum auch. Alexander fand die Souterrain-Wohnung. Und Alexander durchforstete die Stellenanzeigen. Für Marlene. Als Marlene durchsichtig und um zehn Jahre gealtert die Reha abschloss, brauchte sie nur den Weg zu gehen, den Alexander ihr geebnet hatte. Sie nahm alles dankbar an, aber sie konnte nichts zurückgeben. Die Katzen blieben bei Alexander. Marlene hatte Angst, die Katzen würden sie auffressen. Sie fühlte sich wie eine kleine graue Maus. Es war ihr unmöglich mit vier Katzen in einer Keller-Wohnung zu leben. Ihre Haare ließ sich Marlene von Alexander auf Kinnlänge kürzen und in ihre geschätzte Haarfarbe umfärben: grau mit schwarzen Strähnen. Schminksachen und Parfüm landeten von Schimpftriaden begleitet im hohen Bogen im Müll. Der Vertrag mit dem Sportstudio wurde gekündigt. Marlene schaltete auf Autopilot, sie lebte mechanisch weiter. Sie fing an bei Frau Dr. Pfennig zu arbeiten. Es fiel ihr schwer, sich an die Arbeit zu gewöhnen. Manchmal dachte sie, sie müsse sterben. Aber mit der Zeit bekam sie Durchblick. Die Patienten schätzten Marlene. Auch Frau Dr. Pfennig war froh, dass Marlene bei ihr in der Chirurgischen Arztpraxis arbeitete. Marlene machte ihre Arbeit. Sie tratschte nicht. Was Marlene sagte, meinte sie auch so. Wenn sie etwas nicht wusste, fragte sie. Marlene war sozusagen schnörkellos. Nur die zwei Krankenschwestern, die auch bei Frau Dr. Pfennig angestellt waren, hatten etwas gegen Marlene. Besonders, wenn der schöne Alexander Marlene von der Arbeit abholte. Dann waren die beiden richtig sauer. Alexander konnte anziehen, was er wollte, er sah aus wie ein Model. Er erinnerte ein wenig an David Bowie, hatte aber schwarze Haare und fast schwarze Augen. Er war ziemlich groß, doch wirkte er nie schlaksig. Mit ihm hatten es seine Gene offenbar sehr gut gemeint. Nur Alexanders stundenlangen guten Zureden war es zu verdanken, dass Marlene wieder mit zum Tanzen kam. Die anderen Leute vom Tanztraining konnten nicht verstehen, warum sich ein so schöner junger Mann mit einer Frau wie Marlene abgab. Aber das mussten sie auch nicht. Obwohl Marlenes Selbstwertgefühl am Boden war, an Alexanders Freundschaft zweifelte sie nie. Wäre sie in die USA oder nach Australien ausgewandert, hätte sie Alexander mitgenommen. Und Alexander wäre mitgekommen. Das wusste sie und das wusste auch Alexander. Als die Scheidung schon eine Weile zurück lag, fragte einer der Kursleiter vom Tanzstudio, ob Alexander und Marlene an Turnieren teilnehmen wollen. Er würde ihnen Extra-Stunden gratis geben. Die beiden hätten das gewisse Etwas. Es wäre eine Schande nichts daraus zu machen. Marlene und Alexander sagten Ja. Wenige Wochen später entdeckten die Schwestern von Frau Dr. Pfennig Plakate mit Marlene und Alexander in der Innenstadt und waren nun regelrecht erbost. Man konnte auch sagen, sie waren zerfressen vor Neid. Dies alles geschah zu der Zeit, als Marlene anfing mit den Instrumenten, die sie in den Steri legte und später wieder herausnahm, zu sprechen. Sie erklärte den Scheren und Pinzetten: „Ich habe Robert gepflückt wie eine reife Pflaume.“ „Und er hat sich pflücken lassen“, war die Antwort. „Für irgendetwas muss es ja gut gewesen sein“, brummte Marlene. „Genau, warte es nur ab!“ „ - - - - -? “ „Mit wem reden Sie, Marlene?!“ Zum Glück ging die eine Tür richtig auf, während die andere anfing in das Schloss zu fallen. Es wurde eine Überraschungs-Aktion in Alexanders Salon gestartet. Ergebnis: feuerrot und Dauerumarmung für den Coiffeur. Marlene und Alexander konnten es kaum glauben: Seitdem es aufwärts ging, ging es steil aufwärts. Sie hatten Erfolg. Sie hatten Spaß. Dafür trainierten sie fast jeden Tag. Dass Marlene oft müde von der Arbeit über die Straße in ihre Wohnung schlich, hielt sie nie davon ab zum Tanztraining zu gehen. Es war eher so: Durch das Tanzen hielt sie den Stress auf Arbeit und die Launen der Schwestern überhaupt aus. Wenn sie an Alexander dachte, wurden ihre Gesichtszüge weich. Manchmal kam es ihr so vor, als wären sie Kinder, die spielen Erfolg zu haben. Alexander äußerte die Idee, das Tanzen zum Beruf zu machen. Marlene war einverstanden. Sie zogen zusammen in eine schöne Altbauwohnung in der Nähe vom Stadtpark. Endlich hatte Marlene ihre Katzen wieder bei sich. Endlich hatte sie keine Angst mehr. Sie kündigte die Stelle bei Frau Dr. Pfennig. Alexander arbeitete nur noch stundenweise. Er und Marlene kamen kaum noch zum Luftholen. Aber es machte Spaß, atemlos und glücklich durch das Leben zu rennen. Es machte riesigen Spaß! Sie waren DAS Flamenco-Paar! Marlene ließ die Fotografen stehen. Sie brauchte sich niemandem erklären. Sie konnte es sich leisten. An einem Morgen im April wurde Marlene sehr früh wach. Da war so ein Ziehen in den Beinen. Oder war es ein Spannungsgefühl? Marlene fasste sich an die Stirn. Sie war völlig verschwitzt. Sie schnappte nach Luft wie ein Fisch, der aus dem Wasser gezogen und auf die nackten Planken eines Fischkutters geworfen worden war. Die Tür von Marlenes Zimmer war nicht geschlossen. Einen Spalt breit stand sie offen. Marlene konnte Alexander in der Küche mit Geschirr klappern hören. Er sang bei der Arbeit: „Fällt aus dem Nest ein Vogel, ist das nicht schlimm. Sagen die Großen. Vögel gibt´s viele. ...“ Ein Lied von seinem Lieblingssänger. Es duftete nach Kaffee und frisch gebackenen Brötchen. Ares, Melpomene, Mauz und Mauzi miauten im Flur. So früh am Tage war es wohl doch nicht. Marlene drehte sich langsam im Bett auf die andere Seite. Noch fünf Minuten kuscheln, dann wollte sie aufstehen. Ohne, dass sie es merkte, fielen ihr sanft die Augen zu. Es duftete nach Kaffee und frisch gebackenen Brötchen. Als sie sich zwei Stunden später mit Alexander das Frühstück schmecken ließ, hatte sie alles vergessen: Das Ziehen in den Beinen. Das Spannungsgefühl. Die Luftknappheit und den Schweiß. Sie wusste nichts mehr von all dem. Sie lachte über die Witze, die Alexander machte. Wunderbar. Comments are closed.
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Inés Witt
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