Ich war viel zu spät in der Location angekommen. Die Liste für die Musiker, die beim Open Mic auftreten wollten, war schon lang. Mein Platz war somit die Nummer Zehn.
Es machte Freude den anderen Menschen zu lauschen, ihnen zuzusehen. Aber ich wurde auch müde. Allein der Gedanke, dass ich erst nach 22:30 Uhr dran war, ließ meine Energie sinken. Und wie das so ist, jede Medaille hat ihre zwei Seiten, wurde mein Spot plötzlich auf eine Person gelenkt, die weit vorn in der Nähe der Bühne saß. Ich konnte die Frau nur von hinten sehen, aber ich war mir sicher, dass es Marina war. Der Moment, der Zeit-Raum, in welchem sie mir ihre Anwesenheit schenkte, dehnte sich aus und ich versuchte das zu unterstützen. Um Marina legte sich ein Kreis aus Licht und ich genoss es unfassbar, dass sie da war. „Wie habe ich dich vermisst“, sendete ich in ihre Richtung. „Es ist so schade, dass du viel zu früh unsere Erde verlassen musstest. Mit dir zu lachen war immer ein Fest. Dich zu beobachten, wenn du dich wie eine Raubkatze gewehrt hast, wenn sie dich ändern wollten...“ Ja, Marina war eine ganz besondere Kollegin gewesen. Sie hatte Schwung, Fröhlichkeit und eine herzerfrischende Unangepasstheit in unsere Abteilung gebracht. Irgendwann zog sie weg. Irgendwann verunglückte sie tödlich. Ja, und während ich auf meinen Auftritt wartete, durfte ich in der Illusion baden, dass Marina möglicherweise lebt. Dass alles damals ein blöder Irrtum war, die Nachrichten gelogen. Es fühlte sich für mich an, als wäre sie da, obwohl ich wusste, dass mein Gefühl mir etwas vorgaukelte. Na und? Marina noch einmal zu erleben, war bitterschön, als würde ich mir einen zauberhaften Film anschauen, von dem ich wusste, dass er traurig enden würde. Ich holte die Taschentücher aus meinem Rucksack. Vorsorglich, denn meine ehemalige Kollegin und Freundin würde bald aufstehen, sich etwas vom Tresen holen, sich verabschieden und gehen. Oder, spätestens gegen 22:30 Uhr würde ich in ihr Gesicht blicken und diese perfekte Illusion ein Ende finden. Marina war mehr als eine Arbeitskollegin damals. Sie war ein Kleinod in dieser Welt, wie in dem Lied von Keimzeit: Kleinod Sie ist nicht krank und nicht verrückt, nur überdreht, wenn sie mit jungen Hunden bellt. So wie sie aussieht, wie sie spricht und wie sie geht, sie ist ein Kleinod dieser Welt. Von irgendwoher, irgendwohin nur der Mond weiß, was sie will. All meine Worte ergeben keinen Sinn, also bleib ich lieber still. [ ... ] Hab es versprochen und hab es geschwor'n, ihr Geheimnis zu bewahr'n. Mit dem nächsten Neumond, ginge sie verlor'n, würde ich es offenbar'n. Sie ist nicht krank und nicht verrückt, nur überdreht, wenn sie mit jungen Hunden bellt. So wie sie aussieht, wie sie spricht und wie sie geht, sie ist ein Kleinod dieser Welt. Ich lasse das mal auf diese Weise stehen. Solche seltenen Momente sollten nicht entzaubert werden. Comments are closed.
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Inés Witt
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