Marianne war auf dem Nachhauseweg. Sie kam vom dreizehnten Geburtstag ihrer besten Freundin Sabine. Es war ein lustiger Nachmittag gewesen. Ihre Freundin hatte das Glück, dass ihr Geburtstag fast immer in die Sommerferien fiel, wie auch in diesem Jahr. Marianne und Sabine waren sehr verschiedene Mädchen. Sabine sah mindestens zwei Jahre älter aus und folgte jedem Modetrend. Sie liebte Shoppen über alles und machte sich gern zurecht. Im Grunde sah sie aus wie diese perfekt gestylten Youtuberinnen, die sich momentan im Netz tummeln. Marianne hingegen wirkte noch sehr kindlich. Sie trug Short Fringe Bangs, der Rest ihrer Haare war kinnlang und als i—Tüpfelchen hatte sie zwei Zöpfe lang gelassen bei ihrem letzten Friseurbesuch. Es war ursprünglich das Ergebnis einer Wette. Sie hatte gedacht, dass sie diese Frisur nur vorübergehend so lassen würde, aber inzwischen fand sie es einfach megacool. Kleidungstechnisch war ihr eigentlich alles egal, Hauptsache bequem. Anstatt sich wie Sabine zu schminken, malte sie sich Pünktchen unter ihre Augen. Sie wirkte wie eine Elfe, obwohl sie praktische Outdoorsachen bevorzugte. Es war ein lauer Sommerabend, die Sonne tauchte alles in ein unfassbar schönes warmes Licht. Marianne träumte vor sich hin. Sie hatte einen angenehmen Weg vor sich, denn sie wohnte in der sogenannten Gartenstadt. Nun sah sie am Straßenrand plötzlich ein braunes Osterei. „Das müsste doch eigentlich bei der Wärme heute längst geschmolzen sein“, befand Marianne und beugte sich zu dem merkwürdigen kleinen Ding hinunter. Das hatte Fell und zwei schwarze Knopfäuglein, war in Wirklichkeit ein Hamster und sein Blick sagte: „Rette mich!“ „Manchmal beißen Hamster“, überlegte sie, aber dann hob sie ihn hoch und meinte: „Klar doch, ich muss dich nur an meinen Eltern vorbei schmuggeln. Ich darf nämlich keine Haustiere haben.“ „Das wird schon“, antwortete der Hamster. Also, gesagt getan, sie ging nach Hause, huschte erst in ihr Zimmer, setzte das Tierchen auf ihr Bett und begrüßte dann ihre Eltern, die auf der Terrasse den Tag mit einem Glas Wein ausklingen ließen. Marianne hatte keinen Hunger, ging trotzdem in die Küche und holte ein paar Nüsse und ein Schälchen mit Wasser. Am nächsten Tag arbeiteten ihre Eltern. So hatte Marianne den ganzen Tag Zeit, eine Behausung für den Hamster zu basteln. Das Ergebnis war eine unförmige Holzkiste mit vielen „Fenstern“, mit Sägespänen ausgelegt. Futter und Streu hatte sie eingekauft, dafür war sie extra mit dem Rad in die Stadt gefahren. Am selben Abend schon kam ihr Geheimnis ans Licht. Ihr Vater hatte das Ungetüm von Käfig in Mariannes Zimmer entdeckt und fürchterlich zu schimpfen angefangen. Marianne schaute betreten zu dem Hamster. Seine Äuglein schrien: „Rette mich!“ So versprach sie ihrem Vater alles für die Schule zu machen, sie wollte in jedem Fach eine Note besser werden. Letztendlich ging es noch einmal in die Stadt, um eine richtige, geräumige Hamsterbehausung zu erwerben. Die Mutter hielt sich aus dieser Angelegenheit raus. Was in den folgenden Jahren geschah, kann man in das Reich der Legenden verbannen, man kann es aber auch gern glauben. Kurzum, der Hamster war hellsichtig. Wenn Marianne ihm erzählte, welche Fächer am kommenden Tag auf dem Stundenplan standen, blickte der Hamster sehr ernst und blinzelte bei den Themen, auf die sich Marianne besonders gut vorbereiten musste. Jede Klassenarbeit, Kurzkontrolle, wenn sie an der Tafel etwas erklären sollte, Marianne brillierte und holte eine Eins nach der anderen. Die Eltern waren schwer beeindruckt. Normalerweise leben Hamster nicht besonders lange, sie erreichen ein Alter von zwei, bestenfalls drei Jahren. Aber dieser Hamster bedachte Marianne mehrmals mit dem Blick „Rette mich!“ und dann fuhr sie mit dem hilfreichen Tierchen schnellstens zum Tierarzt. Der Hamster blieb sechs Jahre bei ihr, er durfte im Garten rumlaufen und bei Marianne im Bett schlafen. Er war so klug, dass er sich komplett an Mariannes Tagesablauf anpasste. Marianne schloß ihr Abitur mit 1,0 ab. Ihr Erfolgsgeheimnis verriet sie erst einige Jahre später, als sie schon Studentin war. Danach, die Leute tragen ja alles weiter, müsst ihr mir glauben, waren eine Zeit lang die Hamster in unserer Stadt ausverkauft. Es gab regelrecht einen Schwarzmarkt, um Hamster für viel Geld an den Mann oder die Frau zu bringen. Aber das legte sich ziemlich schnell, weil von dem Hamster leider keine Verwandten mehr lebten. Seine ganze Familie war nämlich hellsichtig gewesen, nur hatte es niemand gemerkt. Übrigens, ihrer seltsamen Frisur ist Marianne treu geblieben. Sie hat Veterinärmedizin studiert und in Berlin eine Praxis für Kleintiere, spezialisiert auf Nager, eröffnet. Die Praxis läuft gut, da es in Berlin bekanntlich viele Punks gibt, die Ratten halten und sich sehr um ihre Lieblinge kümmern. Nun mag sich mancher fragen, wie hat Marianne ohne den Hamster ihr Studium bewerkstelligen können. Das ist mir, ehrlich gesagt, auch ein Rätsel. Vielleicht hat sie in den Hamsterjahren eine effiziente Lerntechnik entwickelt. Esoteriker halten sicherlich auch eine Verbindung der beiden nach dem Ableben des Hamsters für möglich. Es gibt ja Vieles zwischen Himmel und Erde, das sich unserer Vorstellungskraft entzieht. Wer weiß? Comments are closed.
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Inés Witt
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