Sie ließ die Fotografen einfach auf der Straße stehen. Die Treppe runter zu ihrer Souterrain-Wohnung, Tür zu und erst einmal tief durchatmen.
Der schöne Alexander erwartete sie schon. „Na, war’s so schlimm?“, er stellte sich hinter sie, löste ihre kunstvolle Hochsteckfrisur und fing an ihr den Kopf zu massieren. Dabei summte er „Katrin malt mit Wasserfarben“, ein Lied von Gerhard Schöne. Er hatte eine Schwäche für diesen Liedermacher aus DDR-Zeiten. Das konnte man ihm nicht abgewöhnen. Er mochte besonders die Kinderlieder, vielleicht weil er selbst noch wie ein Kind war. Sie kannte Alexander jetzt vier Jahre. Er war ihr bester Freund. Gemeinsam gingen sie zur Tanzschule. Marlene war ein Tanztalent und Alexander hatte ihr Mut gemacht, mit dem Tanzen Geld zu verdienen. Obwohl Marlene und Alexander als Flamenco-Paar Erfolg hatten, richtete sich das Interesse der Fotografen am meisten auf Marlene. Sie war sehr fotogen. Noch fotogener als Alexander. „Dass alles immer so extrem sein muss in meinem Leben“, beklagte sich Marlene, „Von ganz oben nach ganz unten und nun wieder ganz nach oben und dann noch gleich fast berühmt.“ Alexander unterbrach die Massage. „Willst du zurück? Soll ich dir deine Haare wieder grau färben?“ Er war nicht nur ihr bester Freund, er war auch ihr Friseur. „Nö!“ Sie sah aus dem Fenster. Genau gegenüber auf der anderen Straßenseite war die Praxis von Frau Dr. Pfennig. Dort hatte sie bis vor einer Woche gearbeitet. Als Mädchen für alles. Es hatte Spaß gemacht. Dachte sie. Bis sie anfing mit den Instrumenten zu reden, die sie aus dem Steri holte. Die Ärztin war ständig am Hetzen von einem Behandlungszimmer in das nächste. Es gab vier Behandlungszimmer um möglichst effizient arbeiten zu können. Und zwei Schwestern, die ausschließlich miteinander redeten und sie nur „unsere graue Maus“ nannten. Damals hatte Marlene noch graue Haare getragen, alles Natur. Nach der Scheidung von ihrem Mann hatte sie beschlossen, jeden großen Aufwand wie Friseurbesuche, Kosmetik, Schminken sofort bleiben zu lassen. Es war ja eh verlorene Liebesmüh gewesen. Ihr Mann hatte sie verlassen trotz ihrer schönen gefärbten Haare und ihrer schlanken Figur, die sie sich dank Dauerdiät und Sportstudio erhalten hatte. Sie war in diese Souterrainwohnung gezogen und hatte angefangen bei Frau Dr. Pfennig zu arbeiten. In die Wohnung hatte sie sich sofort verliebt. Ein schönes Loch zum Verkriechen und direkt gegenüber der Arztpraxis. Marlene hatte sich ihr Leben neu eingerichtet. Das einzige, was zählte, war Vernunft. Das einzige, auf das man sich verlassen konnte, war Vernunft. Alle anderen Aspekte klammerte sie aus. Die Kindheit von Marlene Kessel konnte man als schön bezeichnen. Ihre Eltern, ein Anwaltsehepaar, bewohnten eine ansehnliche Villa am Stadtrand. In unmittelbarer Nähe befanden sich ein schöner großer Spielplatz und der Kindergarten, in dem Marlene fast ihre gesamte Kindheit verbrachte. Ihre Eltern waren beide durchgehend berufstätig. Marlene, ein sehr hübsches, pflegeleichtes Kind mit schwarze Locken, blauen Knopfaugen, immer schick angezogen, war der absolute Liebling der Kindergärtnerinnen. Das ging an der Schule so weiter. Stets gute Noten. Sie hatte viele Freunde. Es gab keinen Tag, an dem sie schlechte Laune hatte. Das Leben war eine bunte Spielwiese, ihr begegneten nur nette Menschen und sie war eine Prinzessin, der die Liebe und Zuneigung ihrer Umgebung nur so zuflogen. Die ersten grauen Schatten begannen sich über ihr Leben zu legen, als sie siebzehn Jahre alt war. Marlene ging auf die EOS. So hießen in der DDR die Gymnasien: Erweiterte Oberschule. Hatte sie bis zur achten Klasse alles mehr oder weniger in der Schule mit links gemacht, gehörte diese Leichtigkeit des Seins und des Lernens seit der neunten Klasse der Vergangenheit an. Der Schulstoff war anspruchsvoller, das Tempo, das die Lehrer vorgaben, war ein schnelleres. Marlene kam schlecht mit und in der elften Klasse war sie nur noch am Mitschwimmen. Das machte sie mutlos und sie fing damit an, Hausaufgaben Hausaufgaben sein zu lassen. .Sie suchte sich ihre Betätigungs- und Bestätigungsfelder außerhalb der Schule. Sie schwänzte den Unterricht, ging lieber in den Stadtpark und verfütterte ihr Schulbrot an die Enten. Sie fand sich eh zu fett. Ihre weiblichen Rundungen mochte sie gar nicht. In ihren schwarzen Locken schimmerte vorn eine graue Strähne. Erst war es nur ein graues Haar gewesen. Später war die Veränderung nicht mehr zu übersehen. Ihre Mitschüler dachten, sie wolle sich interessant machen und hätte die graue Strähne selbst gefärbt. Als Zeichen ihrer Weisheit sozusagen. Sehr witzig. „Wenn die wüssten!“, ärgerte sich Marlene, „ Es ist doch so: Ehne mehne Muh und ab bist du!“ Sie war eine stille und schlechte Schülerin. Aus jeder möglichen Diskussion hielt sie sich raus. Sie kam sich in letzter Zeit so dumm vor. Und sie hatte keine Traube Freunde mehr um sich. Langsam aber sicher war sie zu einer einsamen Jugendlichen mutiert. Dass Marlene Probleme in der Schule hatte, bekamen ihre Eltern nicht mit. Sie waren es gewöhnt, dass bei ihrer Tochter alles wie geschmiert lief. Wenn andere Leute sie fragten, antworteten ihre Eltern stets: „Alles in bester Ordnung. Unsere große Tochter geht ihre eigenen Wege.“ Wie sehr eigen diese Wege waren, ahnten Frau und Herr Kessel erst, als es kein Zurück mehr gab. Da hatte Marlene schon längst ihren Mister Untergang kennen gelernt und beschlossen, das Abitur sausen zu lassen. Marlene Kessel und Robert Holtz begegneten sich das erste Mal im Stadtpark. Robert, Jurastudent im dritten Semester saß auf einer Parkbank und weinte schon seit Stunden. „Lucienne!“, schluchzte er, „Lucienne, das geht nicht! Lucienne!“ Seine Augen waren rot und verquollen, sein ganzes Gesicht nass, die blonden Haare standen wirr in alle Richtungen ab. Es war ein Anblick, der Marlene erschütterte. Sie hatte noch nie einen erwachsenen Mann so hilflos und in Tränen aufgelöst erlebt. Höchstens im Film. Aber nicht in der Realität. Robert zitterte, seine Schultern bebten. Er nahm Marlene gar nicht wahr. Das fand sie im ersten Moment gut. Sie fixierte einen großen Baum am Rande des Parks. So hatte sie diese bemitleidenswerte Kreatur im Blick, ohne dass das Ganze zu aufdringlich wirkte. Und während dessen überlegte sie fieberhaft, wie sie sich ihm am besten nähern konnte. Der Mann brauchte Hilfe. Sie war allein. Eine solche Gelegenheit kam bestimmt nicht alle Tage... Es war schon am frühen Morgen unerträglich warm. Die Sonne schien grell in Roberts Zimmer. Er bewohnte damals mit drei anderen Studenten eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung unterm Dach. Am Anfang nannten sie es ihren Adlerhorst. Inzwischen nahmen Robert und seine Mitbewohner diese Bezeichnung nicht mehr in den Mund. Sie hatte für große Heiterkeit bei einigen Studentinnen gesorgt. „Tolle Adler oder eher Pleitegeier? Oder gerupfte Gockel?“ Nun ja, sie waren nicht solche Typen, auf welche die Frauen standen. An diesem Morgen riss aber nicht die Hitze Robert aus seinem Schlaf. Da war so ein merkwürdiges Spannungsgefühl in seinen Beinen. Mühsam schraubte er sich aus seinem nassgeschwitzten Bett hoch. „Die Semesterferien beginnen ja klasse.“ Jetzt spannte es nicht, jetzt tat es höllisch weh. „Eine kalte Dusche, dann wird’s besser.“ Robert schleppte sich aus dem Zimmer Richtung Bad. Auf dem Flur brach er ohnmächtig zusammen. Eine halbe Stunde später fand ihn einer seiner Mitbewohner und rief den Notarzt. Was nun folgte, dürfte Leuten bekannt sein, die je an einer ominösen Krankheit gelitten haben. Eine Odyssee durch diverse Kliniken. Ein Haufen Diagnosen, stets von jeweils nur einem Arzt gestellt. Mal hieß es, Blutvergiftung, dann Elephantiasis; letztendlich einigte man sich darauf, dass das ganze Übel psychische Ursachen haben musste. Also wurde er in die Nervenklinik verlegt. Diese befand sich außerhalb der Stadt und bestand aus mehreren Gebäuden auf einem parkähnlichen Gelände. Eigentlich ganz hübsch, beinahe romantisch. Wenn nur der Grund des Aufenthaltes nicht so ernst gewesen wäre. Die hohen Bäume sah Robert nur durch die Fenster und ihr Rauschen hörte er nachts, wenn die anderen schliefen. Da er kaum aufstehen durfte, döste er anfangs nur vor sich hin. Das lag wohl auch an den Medikamenten, die ihm verabreicht wurden. Mit der Zeit ließen allerdings die Nebenwirkungen nach. Seine Schläfrigkeit hielt sich nach drei Wochen in nahezu normalen Grenzen. Lucienne arbeitete als Schwestern-Schülerin im dritten Ausbildungsjahr auf der Station. Sie fiel Robert auf, erst ein wenig. Dann immer mehr. Mit der Zeit wurde sie zu dem einzigen Wesen, von dem er Notiz nahm. Sie wurde sein Lebensmittelpunkt und sein Lebenselixier. Irgendwann nahm er allen Mut zusammen und sprach sie an, fragte nach ihrer Adresse, wollte wissen, ob sie einen Freund hätte. Lucienne, ein freundliches und hilfsbereites Mädchen, beantwortete geduldig seine Fragen. Als sie merkte, dass es mit Robert’ Genesung steil bergauf ging, war ihre Begeisterung riesig. Das Stationsteam beglückwünschte die angehende Schwester zu ihrer Gabe, einen überaus positiven Einfluss auf die Patienten zu haben. Die Behandelung wurde als erfolgreich beendet abgeschlossen, Robert vollkommen gesund entlassen. Im Herbst feierten Lucienne und Robert ihre Verlobung im großen Freundeskreis. Seine Mitbewohner waren richtig neidisch. Solch einen Fang hatten sie ihrem Freund gar nicht zugetraut. Das war jetzt nicht einmal sechs Monate her. Lucienne hatte kalte Füße bekommen. „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht was Besseres findet.“ Robert wischte sich die Tränen aus den Augen, da stand jemand vor ihm. Er schluckte, ein paar Schritte entfernt von ihm war ein junges Mädchen festgewachsen, es hatte jedenfalls den Anschein. Robert schnäuzte sich die Nase und betrachtete das Mädchen. Sie war hübsch, hatte schöne schwarze Locken, aber vorn die graue Strähne passte nicht zu ihrem jugendlichen Alter. Ihre großen blauen Augen hatten etwas Verwirrendes, sie blickten hilflos und zugleich berechnend. „Sie hat gar keine Ähnlichkeit mit Lucienne“, stellte er enttäuscht fest. Lucienne hatte die Ausstrahlung einer Fee, einer guten Fee seiner Meinung nach. Das hatte ihn vom ersten Moment an magisch zu Lucienne hingezogen. „Dieses Mädchen hier könnte eine Hexe sein“, überlegte er. Sie hatte so etwas Tragisches an sich und wirkte trotzdem entschlossen. Was gab es nur so Interessantes zu sehen? Er drehte sich langsam um. Da war nichts. Nur Büsche und Bäume, Stadtpark halt. Er beschloss, auch dorthin zu schauen. Ganz vorsichtig begann das Gespräch der beiden. Sie machte den ersten Schritt: „Enten füttern hilft immer.“ „So so.“ „Hier in der Nähe ist ein Bäcker“, erwartungsvoll sah sie ihn an. „Okay, schlimmer kann´s nicht werden. Dich schickt wohl der Himmel.“ Fortsetzung folgt, die Geschichte geht nicht ewig, noch ca. drei Beiträge Comments are closed.
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Inés Witt
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